Schmerzen, die sich in Gliedmaßen äußern, obwohl diese durch Amputation entfernt wurden, werden Phantomschmerzen genannt. Die Patienten spüren nicht nur die Schmerzen selbst, sondern auch bestimmte Haltungen, den Umfang und die Länge der verlorenen Extremität. Zusätzlich sind auch Kribbeln, Empfindungsstörungen oder Zucken möglich. Der Phantomschmerz wird zwar meistens in den verlorenen Armen oder Beinen beschrieben, aber er kann sich auch nach Entfernung der Brust/Brüste oder von Zähnen bemerkbar machen.
Unser Interview mit PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern
Aber wodurch werden diese Schmerzen begünstigt und gibt es Unterschiede im Empfinden bei Männern und Frauen? Wir haben bei Herrn PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern, Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin sowie Schmerztherapeut, nachgefragt.
BF: Herr Dr. Kern, würden nach einer geplanten Amputation die Patienten weniger Phantomschmerzen haben, wenn man erst das Bein betäuben würde und dann den Patienten?
UK: Nein, das ist leider so pauschal nicht zu sagen. Die Fachleute sind sich aber einig, dass versucht werden sollte, bereits bestehende schwere Schmerzen schon einige Tage vor der Operation deutlich zu reduzieren, weil dies die Wahrscheinlichkeit eines späteren Phantomschmerzes senkt. Allerdings ist dies natürlich bei allen spontan auftretenden Unfällen oder Patienten, die Blutverdünner nehmen müssen (und somit keine regionalen Betäubungsspritzen oder -katheter bekommen können), nicht immer einfach umzusetzen.
Während der OP versuchen die Ärzte aber, sowohl chirurgisch durch vorherige Betäubung der zu durchtrennenden Nerven als auch anästhesiologisch durch Regionalanästhesien oder die Gabe bestimmter Medikamente eine Weiterleitung von Schmerzimpulsen zum (in Narkose dann schlafenden) Gehirn möglichst zu blockieren oder zumindest so gering wie möglich zu halten. Trotz aller Bemühungen bleiben diese Effekte aber leider geringer, als man das gerne hätte.
BF: Warum haben Trauma-Patienten oft weniger Phantomschmerzen als Patienten mit geplanten Operationen?
UK: Diese Beobachtung ist letztlich nicht korrekt, denn sie ist nur vorgetäuscht. Warum? Nun, in der Gruppe der Nicht-Trauma-Patienten befinden sich natürlich viele, die aufgrund einer langjährigen Arterienverkalkung, einer Zuckerkrankheit oder einer chronischen orthopädischen Erkrankung über lange Zeit vor der Amputation schon Schmerzen hatten. Und ein länger andauernder und starker Schmerz vor einer Amputation erhöht eben das Risiko. Es ist aber nicht bei Trauma-Patienten verringert gegenüber vorher ebenfalls schmerzfreien anderen Patienten.
BF: Könnte man den störenden Nerv nicht einfach abschalten, wie etwa beim Zahnarzt?
UK: Ja, das wäre schön. Aber wenn Sie sich einmal klarmachen, was mit einer Backe bei der Betäubung durch den Zahnarzt passiert, merken Sie, dass diese auch nicht „abgeschaltet“ ist. Denn sie sollte ja eigentlich nicht zu spüren sein und wird im Gegenteil nun als „dick“ empfunden. Das liegt daran, dass das Gehirn mit den wegfallenden Impulsen (Schmerz, Berührung, Bewegung usw.) auf Dauer nicht gut zurechtkommt. Wenn das Problem dem Gehirn dann „zu groß wird“, produziert es Schmerzen oder andere Wahrnehmungen „einfach irgendwie selbst“. Wie das funktioniert, ist schon sehr intensiv erforscht worden und ich habe dies auch anhand vieler Fallgeschichten in meinem Buch erläutert.
BF: Warum hat man bei schlechtem Wetter verstärkt Phantomschmerzen?
UK: Das ist eine interessante Frage, denn viele Patienten berichten das. Es scheint aber nicht so zu sein, dass schlechtes Wetter wirklich das Problem ist. Bei den meisten ist es der Wetterwechsel. Gewitter, Sturm und Luftdruckänderungen sind viel eher Auslöser als z.B. stabiler Regen oder stabile Kälte. Die Hintergründe kennt man nicht ganz genau, aber es gibt Hinweise, dass sowohl Luftdruckschwankungen auf Druckrezeptoren des Körpers wirken können als auch elektromagnetische, dem Wetter vorauseilende Wellen sensibel wahrgenommen werden. Die wissenschaftliche Beweislage ist nicht besonders stabil, der Alltag und viele Patientenschilderungen sprechen aber eine klare eigene Sprache.
BF: Gibt es Unterschiede bei weiblichen und männlichen Schmerzpatienten?
UK: Ja, die gibt es. In den Schmerzambulanzen und Schmerzkliniken überwiegen ein wenig die weiblichen Patienten. Hintergrund ist, dass biologisch gesehen bei Frauen (aber auch bei weiblichen Tieren) die Schmerzschwellen etwas niedriger sind, also mit externen Reizen schneller ein Schmerz ausgelöst werden kann. Dies klingt überraschend, da man allgemein vielleicht die Wahrnehmung hat, Frauen würden weniger über Schmerzen „jammern“. Dies sind aber nur die tatsächlichen sozialen Äußerungen des erlebten Schmerzes (Und da sind Männer ja vielleicht etwas „wahrnehmbarer“?). Faktisch gibt es mehr Frauen mit chronischen Schmerzen als Männer und auch bei Phantomschmerzen lässt sich dies als Tendenz erkennen. Der Unterschied ist hier aber nicht besonders groß.
BF: Danke für das Interview!
Zur Person : PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern
geb. 1957, ist Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin und spezialisierte sich während seiner langjährigen Tätigkeit als anästhesiologischer Oberarzt im städtischen Klinikum Kemperhof Koblenz in dem damals noch jungen Fach Schmerzmedizin. Für zwei Jahre war er danach verantwortlich für die Schmerzmedizin der Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD) Wiesbaden. Als niedergelassener Schmerztherapeut leitet er eine Schmerzpraxis und das Institut für Schmerzmedizin in Wiesbaden.
Nach mehr als 15 Jahren Studentenunterricht und einer externen Habilitation zum Privatdozenten 2014 unterrichtet er weiter als Hochschullehrer der Klinik für Anästhesiologie zum Thema „Chronische Schmerzen“ an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Autor und Co-Autor vieler Fachartikel und Buchkapitel, darunter auch schmerztherapeutische Erstbeschreibungen und Experten-Konsensus-Empfehlungen. Seit mehr als 20 Jahren ist er Berater vieler pharmazeutischer Unternehmen und Redner auf nationalen und internationalen Kongressen.
Buchtipp: Mit einem Bein bereits im Himmel
Phantomwahrnehmungen – auf den Spuren eines rätselhaften Phänomens
ISBN: 978-3456860138, 312 Seiten, 24,95 €