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Mit Assistenz auf Reisen

Eine gemeinsame Sache

Dr. Henning Weiß (74, seit zehn Jahren auf einen Rollstuhl und tägliche Assistenz angewiesen) und Silke Pollert-Sobiech (56, selbstständige Reiseassistentin) werden im März 2023 das erste Mal zusammen reisen.

Herr Weiß auf der linken Seite sitzend, Frau Pollert auf der rechten. Beide schauen in die Kameta
Links: Dr. med. Henning Weiß, Arzt für Frauenheilkunde, Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin.
Rechts: Silke Pollert-Sobiech, professionelle Reiseassistentin, Ergo- und Körpertherapeutin.

Es folgt ein Ausschnitt der Themen, über die sie im Vorfeld bei einem Treffen gesprochen haben:

Dr. Weiß, über welche Eigenschaften sollte eine Reiseassistentin Ihrer Meinung nach verfügen?

Sie sollte empathisch und weltoffen sein, zudem sollte sie sich auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der zu begleitenden Personen einstellen können. Die unterschiedlichen Behinderungen stellen eine Herausforderung an die Flexibilität in Begleitung und Assistenz dar. Die Reiseassistentin muss auch über ausreichende Kenntnisse und Fähigkeiten in der Pflege verfügen. Sie sollte jederzeit erreichbar sein, wenn eine ständige Präsenz nicht erforderlich ist. Darüber hinaus sollte sie sich – wenn möglich – Kenntnisse über das Reiseziel aneignen.

Fr. Pollert, Sie haben schon mehrere Menschen auf Reisen begleitet und arbeiten in Münster auch für einen Verein als Alltagsassistentin. Wo sehen Sie die größten Unterschiede?

Der Alltag hat Struktur und festgelegte Routinen. Das fällt auf Reisen weg, und es muss nach Alternativen für vertraute Lösungen gesucht werden. Das bringt viel mehr Unsicherheit mit sich. Zu Hause sind Entscheidungsbefugnis und Verantwortung auch meist klar festgelegt. Aber auf Reisen kann es geschehen, dass etwas völlig unerwartet abläuft und schnell entschieden werden muss. Je nach Art der Einschränkungen, zum Beispiel bei neurologischen Problemen wie verlangsamtem Reagieren oder Konzentrationsproblemen, muss dann eventuell die Entscheidung vonseiten der Assistenz übernommen werden. Damit das nicht als übergriffig erlebt wird, müssen vorher klare Absprachen für solche Situationen getroffen werden.

Auch sollte man vorher klar kommunizieren, wie sich das eigene Verhalten (von Kunde und Assistent) unter Stress, bei Müdigkeit, Erschöpfung, hoher Lärm- bzw. Reizbelastung usw. verändert, denn damit wird man im Alltag eher selten konfrontiert. Reisen kann anstrengend sein, aber wenn man gut miteinander kommuniziert, kann es auch unter Belastung unkompliziert ablaufen.

Welche Vorbereitungen treffen Sie im Vorfeld der Reise, Dr. Weiß?

Ich belese mich und informiere mich in digitalen Medien über mein Reiseziel. Ich plane den Aufenthalt auch dadurch, dass ich entsprechende Kleidung, Hilfsmittel und Medikamente vorab zurechtlegen lasse. Der Koffer wird in meiner Anwesenheit nach einer Liste gepackt. Es kommt dennoch vor, dass man das eine oder andere hinzupacken möchte (Literatur, iPad etc.). Medikamente und Hilfsmittel habe ich auch immer für zwei Tage bei mir, falls die Koffer nicht ausgeliefert werden. Zudem teile ich die Medikamente auf meinen Koffer und den der Reisebegleitung auf. Wichtig ist auch, zu überprüfen, ob die notwendigen Papiere, Pass, Impfungen (Impfpass) etc. noch gültig sind.

Und Fr. Pollert, wie bereiten Sie sich vor?

Die meisten Menschen, die ich begleite, haben über einen Reiseveranstalter gebucht. Ich schaue mir die Unterlagen gut an, damit ich über den Ablauf informiert bin. Vor allem der Flug, Transporte und/oder Ortswechsel im Urlaub sind herausfordernd, weil dann Pflege, Packen, Gepäcktransport, Begleitung etc. koordiniert werden müssen. Je klarer mir die Abläufe sind, desto eher erkenne ich Engpässe, die stressig werden könnten.
Besonders herausfordernd kann das Fliegen mit einem E-Rollstuhl sein. Da habe ich dann alle technischen Daten ausgedruckt im Handgepäck dabei und muss manchmal auch direkt am Flugzeug die Hauptsicherung an mich nehmen (wenn der E-Rolli bis zur Kabinentür benutzt wird).
Natürlich muss ich auch für mich selbst genug über das Zielland wissen, damit ich mich bezüglich Kleidung und evtl. Impfungen entsprechend vorbereiten kann und auch über kulturelle Verhaltenserwartungen informiert bin.

Ein Flugzeug kurz nach dem Start zwischen einer Wolkendecke. Im Hintergrund blauer Himmel.

Dr. Weiß, Sie reisen regelmäßig. Was für Veränderungen würden Sie sich in der Touristikbranche wünschen?

Im Allgemeinen erfährt man als behinderter Mensch viel Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Wünschenswert wäre jedoch, wenn die Touristikbranche von sich aus Reiseassistenz vermittelt.
Ich wünsche mir in den Unterkünften mehr behindertengerechte Zimmer, die über entsprechende Hilfsmittel verfügen, insbesondere über ein höhenverstellbares Bett und behindertengerechtes Bad.
Des Weiteren sollte der/die Reiseassistent/in über eine Zusatzqualifikation zu ihrem im weitesten Sinne sozialen Beruf verfügen.

Fr. Pollert, gibt es aus Assistenzsicht etwas, das Sie ergänzen möchten?

Ich würde an dieser Stelle gern ein dickes Lob für die speziellen Helfenden im Flughafenbereich und die Männer vom Rollfeld aussprechen. Manchmal muss man zwar auf sie warten, weil so viele Menschen im Rollstuhl betreut werden müssen, aber ich erlebe immer wieder vollen Einsatz bei sehr großer Freundlichkeit.
Was mich oft stört, ist weniger ein Problem der Touristikbranche als vielmehr ein gesellschaftliches. Dieses wird auf Reisen nur eher sichtbar, weil man dort schneller in Kontakt kommt: Es gibt viele Menschen, die immer zuerst mich ansprechen oder – viel schlimmer – mir Fragen über den:die Betreffende:n stellen, während diejenige Person dabei ist.
Und bei manchen Menschen habe ich das Gefühl, dass sie im Urlaub lieber gar nicht mit einem Rollstuhl konfrontiert werden möchten, das kann mich richtig wütend machen.
Ansonsten finde ich, dass in der Branche wirklich daran gearbeitet wird, dass mehr Barrierefreiheit entsteht. Allerdings würde ich mir auch eine bessere Verfügbarkeit von Hilfsmitteln wünschen.

Stichwort ‚Kompromisse‘: Wo muss man beim Reisen mit Assistenz welche machen, Dr. Weiß?

Durch die Einschränkungen der zu begleitenden Person sind Kompromisse im Tagesablauf, in der Wahl der einzelnen Sehenswürdigkeiten, in der Gestaltung der Freizeit und des Abends notwendig. Das bedeutet auch, dass man als Reisender der Assistentin die Freiheit geben sollte, etwas zu unternehmen, an dem man nicht teilnehmen kann.

Ein Tisch vor einem Café in einer Straße mit Altbauten. Auf der Straße steht ein Aufsteller des Cafés.

Und wie sehen Sie das, Frau Pollert?

Mir muss einfach klar sein, dass ich Mit-Reisende bin, dass es nicht mein Urlaub ist. Freie Zeiten sind in der Regel abgesprochen und können auch eher kurz ausfallen, sodass ich oft nicht tun kann, was ich vielleicht gerne tun würde.

Dr. Weiß, als Mensch mit körperlichen Einschränkungen, wo sehen Sie (gesellschaftlichen) Entwicklungs- oder Veränderungsbedarf?

Es gibt schon sehr viel Aufmerksamkeit und Hilfen in der Gesellschaft im Alltagsleben. Wünschenswert wäre eine Fortsetzung der Entwicklung, vielleicht auch – soweit ich das beurteilen kann – etwas mehr finanzielle Unterstützung für Menschen, die sich zum Teil essenzielle Dinge nicht leisten können.

… und wie sehen Sie das als Assistentin, Frau Pollert?

Ich finde, ganz dringend sollte ‚Assistenz‘ als Beruf anerkannt werden, so wie das bereits bei dem:der Alltagsbegleitenden geschehen ist. Jedoch wäre eine spezifische Ausbildung erstrebenswert, in der nicht nur Pflege, sondern auch die besonderen Fertigkeiten beim Begleiten eines Menschen in seinem Leben geschult bzw. geschärft würden. Denn es ist ja nicht das `ich mache das für dich´, sondern ein `wie würdest du es tun, und deshalb mache ich es genau so´.

Zu dem finanziellen Aspekt stand etwas sehr Interessantes in der dritten Ausgabe des Rollstuhl-Kuriers 2022, nämlich „dass Urlaubsreisen als Form der Freizeitgestaltung ein legitimes soziales Teilhabebedürfnis darstellen“ und daher Eingliederungshilfe für die Begleitperson im Urlaub beantragt werden kann (Entscheidung vom Bundessozialgericht vom 19.05.2022, www.bsg.bund.de, Stichwort: ‚Mehrkosten‘).

Dr. Weiß, haben Sie vielleicht ein Schlusswort oder ein Zitat für uns?

Ich denke hier an Tucholsky:
„Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an.“

Weitere Infos zum Thema Reisen mit Assistenz und Silke Pollert finden Sie auf https://www.travessible.de/

Mehr Tipps für eine angenehme Flugreise mit Handicap finden Sie hier: https://barrierefrei-magazin.de/artikel/reisen-mit-handicap-unsere-tipps-fuer-eine-angenehme-flugreise/

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