StartLeben mit Multiple SkleroseVR-Brille soll Tumore und Multiple Sklerose erkennen

VR-Brille soll Tumore und Multiple Sklerose erkennen

Anfang des Jahres 2024 soll eine Virtual-Reality-(VR-)Brille auf den Markt kommen, die Tumore, Alzheimer und Multiple Sklerose (MS) erkennt. Diagnose per VR-Brille? Klingt nach Science-Fiction? Ist es nicht! Die Brillen werden sogar schon seit Längerem in der Therapie eingesetzt. Mehr zu diesem Thema kann uns unser Experte berichten.

Portraitfoto Dr. med. Mimoun Azizi Dr. med. Mimoun Azizi,
Chefarzt der Klinik für Neurogeriatrie im Allgemeinen Krankenhaus Celle

Sehr geehrter Herr Dr. Azizi, vielen Dank, dass Sie uns als Interviewpartner zur Verfügung stehen. Wo werden die VR-Brillen zum Einsatz kommen? Vielleicht direkt beim Hausarzt oder in den Krankenhäusern?

Dr. Azizi: VR-Brillen finden bereits Anwendung in Unternehmen und in der Unterhaltungsindustrie. Sie werden seit geraumer Zeit aber auch therapeutisch eingesetzt. Nicht nur in der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Phobien und anderen Angststörungen, zum Beispiel Höhenangst, sondern auch in der Schmerztherapie. So konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden, dass der Einsatz von VR-Brillen schmerzlindernd bei Brandverletzten wirkte und ihr Schmerzerleben gesenkt werden konnte. Die VR-Brillen-Therapie kann aber auch Nachteile haben. Sie kann bei einigen Patienten:innen die sogenannte Motion Sickness verursachen. Dabei verspüren die Nutzenden einen heftigen Schwindel, meist einhergehend mit Übelkeit und Erbrechen. Für Patienten:innen mit Migräne, Gleichgewichtsstörungen, Klaustrophobie und Epilepsie ist eine solche Behandlung nicht zu empfehlen.
Die speziellen VR-Brillen werden von einem Schweizer Medizintechnik-Start-up zusammen mit der Uniklinik Bern und dem Schweizer Zentrum für Elektronik und Mikrotechnik (CSEM) entwickelt. Daher ist davon auszugehen, dass die VR-Brille als Diagnoseinstrument zuerst im Berner Uniklinikum eingesetzt und weiter getestet wird. Diese neue Generation der VR-Brille dient nicht der Reduktion von Schmerzen oder der Behandlung von Phobien, sondern soll helfen, Tumore, Alzheimer-Demenz und MS zu diagnostizieren. Das Ziel ist die Verbesserung einer Früherkennung dieser Erkrankungen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Methode, die sich noch in den Anfängen befindet. Sie bedarf der Erprobung im Alltag und weiterer Studien. Da es sich um eine spezielle Untersuchungs- bzw. Diagnostikmethode handelt, brauchen die anwendenden Mediziner zudem intensive Schulungen und Fortbildungen. Grundsätzlich will man zukünftig Ärzte:innen die Möglichkeit geben, auch in den eigenen Praxen mittels dieser VR-Brille Erkrankungen wie MS und Alzheimer-Demenz diagnostizieren zu können.
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zum einen ist diese Methode als diagnostisches Instrument bei den genannten Erkrankungen neu, zum anderen muss sie sich auch noch im klinischen Alltag bewähren. Daher wird die VR-Brille als diagnostisches Instrument zunächst nur in wenigen Zentren und im Bereich der Forschung zum Einsatz kommen. Dass VR-Brillen in naher Zukunft in Hausarztpraxen eingesetzt werden, ist sehr unwahrscheinlich. Patienten:innen, bei denen ein Verdacht auf MS, Tumore oder Alzheimer besteht, werden in der Regel zum:zur Spezialisten:in oder ins Krankenhaus überwiesen – dort wird die Brille vermutlich häufiger zum Einsatz kommen, wenn sie sich nach der Einführung 2024 auch bewährt hat.

Wie genau funktionieren die VR-Brillen, dass sie solche dramatischen gesundheitlichen Veränderungen erkennen können?

Dr. Azizi: Ursprünglich wurden die Brillen für Computerspiele entwickelt. Durch eine zusätzlich eingebaute Kamera und eine algorithmusbasierte Software lassen sich auffällige Augenbewegungen beobachten, messen und analysieren. Dabei handelt es sich um keine neuen Erkenntnisse, sondern um Feststellungen aus der Neuroophthalmologie – einem Spezialgebiet der Augenheilkunde an der Schnittstelle zur Neurologie. Schon lange ist bekannt, dass eine Erkrankung des Gehirns die Augenbewegungen und Pupillenreaktion beeinflusst. Analoges Beobachten sowie das Messen und Bewerten der Augen sind jedoch sehr aufwendig und extrem fehleranfällig. Die VR-Brille ermöglicht durch digitales Eyetracking eine schnellere und genauere Messung. Durch die genutzte künstliche Intelligenz können abweichende Augenbewegungen und -reaktionen präziser interpretiert werden. Genau hier sind folglich spezialisierte Zentren gefragt und Ärzte:innen, die mit dieser Methode bereits Erfahrungen gesammelt haben.

Wie lange dauert der Vorgang bzw. die Untersuchung?

Dr. Azizi: Eine herkömmliche manuelle Untersuchung dauert ungefähr eine
Dreiviertelstunde. Die Untersuchung mithilfe der VR-Brille beinhaltet insgesamt acht Tests. Dabei wird jeweils ein Auge geblendet und die Pupillenreaktion auf den Lichtreiz beobachtet. In wenigen Minuten generiert die Software dann einen Bericht, der Experten:innen verrät, ob alles in Ordnung ist oder Hinweise für neurologische Auffälligkeiten vorliegen.
Dennoch wird auch die Diagnostik mittels VR-Brille nicht in wenigen Minuten erledigt sein. Patienten:innen müssen zunächst aufgeklärt und instruiert werden. Zwar kann die Software in wenigen Minuten einen Bericht erstellen, aber die Vorarbeit mit den Patienten:innen wird Zeit in Anspruch nehmen. Somit ist davon auszugehen, dass die Untersuchung anfangs ca. eine halbe Stunde dauern wird. Vieles hängt auch von der Erfahrung der Untersuchenden ab. Die Vorstellung, mithilfe der VR-Brille in nur wenigen Minuten eine Diagnose generieren zu können, ist eher unwahrscheinlich. Sicher könnte sich durch das Verfeinern der Untersuchungsmethode und die Verbesserung der Software zukünftig die Zeit bis zur Diagnose deutlich verkürzen. Dann wäre die VR-Brille auch für Praxen relevant, weil sie so schneller und exakter diagnostizieren können – und das auch bei hohem Patientenaufkommen.

 

Ein junger Mann im Vordergrund des Bildes. Er trägt eine schwarze virtuell reality Brille im Gesicht, hat einen drei Tage Bart und ist bekleidet mit einem Hemd und einer Jeansjacke. Der Hintergrund des Bildes ist weiß.

Die Brille hat etwas festgestellt. Kann sich darauf 100%ig verlassen werden? Was würde anschließend mit dem:der Patienten:in passieren?

Dr. Azizi: Eine 100%ige Sicherheit gibt es nie. Da Blickrichtung, Augenbewegung und Pupillenreaktion mit bloßem Auge allerdings schwer zu erkennen sind, gibt die Brille aussagekräftigere Hinweise auf mögliche Abweichungen. Dann sind weitere Tests zur eindeutigen Diagnose notwendig, und anschließend kann die geeignete Therapieoption gestartet werden. Die VR-Brille als Diagnostikinstrument bei MS, Tumoren und Alzheimer-Demenz muss sich zunächst jedoch im klinischen Alltag beweisen, und es sind weitere Studien hierzu erforderlich.

Was bedeutet diese neue, innovative Methode für die Medizin?

Dr. Azizi: Zwar bietet die VR-Brille keine neuen Erkenntnisse für die Medizin, dennoch stellt sie ein vielversprechendes Mess- und Diagnoseinstrument für die Zukunft dar und bietet ungeahnte Möglichkeiten. Durch die schnellere und einfachere Messung und Interpretation der Daten können Patienten:innen von einer frühen Therapie profitieren. Je früher eine Krankheit diagnostiziert wird, desto eher und besser kann sie behandelt werden. Vor allem bei MS haben Betroffene weniger Beeinträchtigungen, wenn sie frühzeitig therapiert werden. Bei rechtzeitiger Behandlung können MS-Schübe dank moderner verlaufsmodifizierender Therapieoptionen, wie zum Beispiel mit Antikörpern, vermindert werden, der Krankheitsfortschritt eingedämmt und die physischen und kognitiven Fähigkeiten langfristig erhalten bleiben. Je später eine Diagnose erfolgt, desto wahrscheinlicher sind bleibende Schädigungen für Patienten:innen.

Vielen Dank für das Interview!

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