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Hinter Gittern

Strafvollzug mit Handicap

Laut Grundgesetz Art. 3 Abs. 3 darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden, doch wie sieht es mit der Barrierefreiheit in deutschen Haft-
anstalten tatsächlich aus? Wie wird den Bedürfnissen körperlich eingeschränkter Häftlinge Rechnung getragen? Und was geschieht eigentlich, wenn man eine Haftstrafe verbüßen muss, aber pflegebedürftig ist oder es während der Haftzeit wird? Diesen und weiteren Fragen sind wir nachgegangen und haben im zweiten Teil unserer Serie „Hinter Gittern – Strafvollzug mit Handicap“ das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen, unter die Lupe genommen.
Das Land hat sich schon vor einigen Jahren diesen Fragen gestellt, auch weil der demografische Wandel nicht vor Gefängnissen Halt macht.

In Nordrhein-Westfalen verfügen inzwischen sechs Justizvollzugsanstalten (JVA) über spezielle Abteilungen für Senioren ab 60 Jahren.

Zuletzt waren von den landesweit 16 314 Gefangenen 596 Personen über 60 Jahre alt, was einem Anteil von 3,6 % entspricht. Im Jahr 1990 gehörten hingegen nur 1,3 % der Häftlinge zu dieser Altersgruppe. Wie die meisten Senioren möchten jedoch auch die Gefangenen nicht in ein „Altersheim“, weshalb man in NRW grundsätzlich auf eine altersgemischte Unterbringung setzt. Nach den Erfahrungen der Vollzugspraxis sind ältere Gefangene auch keine unter Behandlungsgesichtspunkten homogene Gruppe. Denn sie unterscheiden sich zum Beispiel bezüglich der Hafterfahrung, der Delinquenz oder des Gesundheitszustandes. Wer altersadäquat fit ist, muss nicht auf einer Abteilung mit ausschließlich lebensälteren Gefangenen untergebracht werden. Andererseits gibt es Fälle besonderer Haftempfindlichkeit, in denen eine Integration lebensälte-rer Gefangener in den Normalvollzug schwierig ist. Darüber hinaus gibt es Gefangene mit einem altersbedingt ausgeprägten Bedürfnis nach einem ruhigen Strafvollzug. Eine Rückzugsmöglichkeit auf eine an den speziellen Bedürfnissen dieser Gefangenen orientierten Abteilung kann daher sinnvoll sein.

Abteilungen für „lebensältere Gefangene“

Mit Handlauf ausgestatteter Abteilungsflur der Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne.
Mit Handlauf ausgestatteter Abteilungsflur der Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne.

Mit Handlauf ausgestatteter Abteilungsflur der Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne.In NRW entstehen in den JVA daher zunehmend Abteilungen für „lebensältere Gefangene“, die auf diese neue Klientel eingestellt sind. Insgesamt hält das Land 174 Haftplätze für lebensältere Inhaftierte bereit. Die Anforderungen sind hier nicht nur aufgrund eventueller körperlicher oder geistiger Einschränkungen besondere. Denn der Freiheitsentzug ist angesichts der geringeren verbleibenden Lebenszeit auch psychologisch für Ältere besonders schwer zu verkraften. Die Haft wird oft als Ende des sozialen Lebens empfunden. Die älteren Häftlinge sind daher tendenziell introvertierter, depressiver, ängstlicher und passiver als die jüngeren. Mit den Lebensälteren-Abteilungen will das Land diesen besonderen Umständen und Härten inhaftierter Senioren Rechnung tragen und nicht etwa in privilegierten Anstalten den Vollzug so angenehm wie möglich gestalten.

Die Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne

So verfügt die geschlossene JVA Detmold seit 2007 über eine Abteilung mit 22 Haftplätzen für lebensältere Männer, in der Regel ab 62 Jahren. Die mit 87 Plätzen bundesweit größte Seniorenstation befindet sich jedoch in der offenen JVA Bielefeld-Senne. Ihr wohl prominentester älterer Häftling war der frühere Top-Manager Thomas Middelhoff.

Die Häftlinge teilen sich dort für gewöhnlich einen Haftraum zu zweit, es gibt jedoch auch drei Einzelhafträume. Die Ausstattung ist den Bedürfnissen angepasst: die Betten verfügen über einen erhöhten Ausstieg, die Duschen haben einen Haltegriff und die Toiletten eine Sitzerhöhung.

Von großer Bedeutung ist das immaterielle Angebot: neben den Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes stehen ein Sozialdienst, ein medizinischer sowie ein psychologischer Dienst und die Seelsorge zur Verfügung.

Ein festes Betreuerteam dient als verlässlicher Ansprechpartner für die Belange der Häftlinge und ist für die Beiträge zum Vollzugsplan und weitere administrative Aufgaben zuständig. Der medizinische Dienst bietet dreimal wöchentlich eine separate Sprechstunde nur für ältere Insassen sowie regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und Diabetesschulungen an. Dem psychologischen Dienst kommt neben dem Erstellen von Diagnosen und Prognosen die Aufgabe zu, Demenzen oder demenzielle Abbauprozesse zu erfassen. Das Angebot der Seelsorge steht allen Inhaftierten offen, unabhängig von ihrer Konfession oder Lebensanschauung. Neben Einzelgesprächen und Gottesdiensten organisieren die Seelsorger diverse Freizeitangebote und begleiten teilweise die Gefangenen bei den Ausgängen.

Auch Gefangene gehen in Rente

Dusche mit Sitz und Handgriff in der Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne
Ausstattung der Lebensälteren-Abteilung der JVA Bielefeld-Senne: Dusche mit Sitz und Handgriff.

Zur Arbeit sind die Gefangenen nur bis zum 65. Lebensjahr verpflichtet. Da diese für die meisten jedoch auch eine sinnstiftende und strukturierende Funktion hat, wird versucht, auch allen nicht-arbeitspflichtigen Gefangenen eine ihrer Leistungsfähigkeit angepasste Tätigkeit in den Eigenbetrieben der JVA oder der Hofkolonne zu ermöglichen. Zudem ist die Vermittlung sinnvoller Freizeitgestaltung ein zentrales Resozialisierungsziel. Hierfür stehen das parkähnliche Freistundengelände, Gemeinschaftsräume mit TV und Spielen sowie eine Bücherei und Teeküche zur Verfügung, zusätzlich werden ein wöchentlicher Schwimmbadbesuch und eine altersgerechte Sportgruppe, ein Kochkurs, eine Imkergruppe, verschiedene Kreativangebote und gemeinschaftliche Freizeitausführungen angeboten.

Der Strafvollzug bei Pflegebedürftigen

Für die Aufnahme in die gut ausgestattete Abteilung der JVA Bielefeld-Senne ist aber in der Regel eine ausreichende Mobilität und Selbstständigkeit Voraussetzung. Zunehmend verfügen mehr Vollzugsanstalten auch über behindertengerecht eingerichtete Hafträume, sodass zumindest rollstuhlabhängige Gefangene dort aufgenommen werden können.

In Neubauten von Justizvollzugsanstalten oder einzelnen Hafthäusern werden mittlerweile generell barrierefreie Hafträume mit vorgesehen. Ein neuer barrierefreier Haftraum ist mit rund 23 m² mehr als doppelt so groß wie ein Standard-Einzelhaftraum. Auch die Sanitärkabine muss genormten, speziellen Vorgaben entsprechen (DIN 18040) und die Abmessungen der Haftraumtüre entsprechen denen einer Krankenzimmertüre. Auch die Möblierung ist den Belangen von Menschen mit Behinderungen angepasst.

Wenn abgesehen von der Rollstuhlabhängigkeit aber weiterer Pflegebedarf vorliegt, sind diese Anstalten in der Regel überfordert. Sie werden in NRW entweder in das Justizvollzugskrankenhaus Fröndenberg oder in die JVA Hövelhof verwiesen, die neben einer offenen Jugendstrafanstalt auch eine Abteilung für pflegebedürftige Häftlinge umfasst.

Mobilitätsförderung, Ausstattung der Hafträume und Hilfsmittel

Jeder pflegebedürftige Strafgefangene wird hier zunächst von einem Arzt untersucht und sein Gesundheitszustand begutachtet, anschließend werden die möglichen Hilfsmittel festgelegt. Sollte der Häftling schon Hilfsmittel mitbringen, darf er diese nach Genehmigung des Arztes innerhalb der Anstalt benutzen oder anstaltsinterne Hilfsmittel verwenden (wie z. B. Rollstühle, Rollatoren, Unterarmgehstützen oder Gehstöcke). Die Türen der Hafträume sind breiter als die üblichen Haftraumtüren, sodass ein Rollstuhlfahrer problemlos in oder aus seinem Haftraum kommen kann. Auch sind alle Hafträume mit elektrisch verstellbaren Pflegebetten ausgestattet. Für Rollstuhlfahrer oder Gefangene mit Gehhilfen gibt es behindertengerechte Badezimmer, die ein problemloses Rangieren ermöglichen, die Wände an den Toiletten sind mit Halterungen ausgestattet. Bei Notlagen sind alle Hafträume sowie die Badezimmer mit Notfallschellen ausgestattet, sodass die Gefangenen jederzeit die Möglichkeit haben, die Bediensteten des medizinischen Dienstes zu kontaktieren.

Haftraum der Lebensälteren-Abteilung in der JVA Bielefeld-Senne mit erhöhtem Bett
Inventar eines Haftraums der Lebensälteren-Abteilung in der JVA Bielefeld-Senne mit erhöhtem Bett. Die Möbel werden in der hauseigenen Schreinerei gefertigt.

Ein wesentliches Anliegen bei der Behandlung ist die Erhaltung der körperlichen und geistigen Mobilität. Abgesehen von den guten Bewegungsmöglichkeiten im Freistundenpark erhalten die Patienten daher an drei Tagen in der Woche ein krankengymnastisches Behandlungsangebot unter fachlicher Anleitung, darüber hinaus bei Bedarf und nach Möglichkeit Angebote durch einen zum Sportübungsleiter weitergebildeten Krankenpfleger. Einige Patienten dürfen auch ohne Aufsicht Sportgeräte (Laufband, Orbit-Trainer etc.) nutzen. Darüber hinaus gibt es Angebote zur Freizeitgestaltung (Spielegruppe/ Kochgruppe/Mobilisierungsgruppe). Auch die Pflege von Blinden oder Gehörlosen sowie von mental eingeschränkten Patienten (beginnende Demenz) stellt in Hövelhof erfahrungsgemäß kein Problem dar. Blinde Patienten finden sich nach einiger Zeit gut zurecht, gehörlose Patienten haben meist noch weniger Schwierigkeiten. Hier ist gelegentlich die sprachliche Verständigung schwierig, wenn Lippenlesen nicht erlernt wurde und die Sprachentwicklung durch eine frühzeitige Ertaubung gestört wurde.

Haftfähigkeit und Entlassung

Außenansicht der JVA Bielefeld-Senne.
Außenansicht der JVA Bielefeld-Senne.

Die Frage nach der Haftfähigkeit stellt sich in der Pflegeabteilung der JVA naturgemäß häufiger als in anderen Vollzugsanstalten. Für deren Beurteilung gibt es kein für alle Situationen definiertes Regelwerk. Haftunfähig ist z. B., wer mit den medizinischen Möglichkeiten der Justiz nicht adäquat behandelt werden kann. Dies ist allerdings ein Kriterium, das selten zutrifft, da der Justiz grundsätzlich auch alle externen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Wenn allerdings der Grund der Inhaftierung und die Haftsituation an sich nicht mehr verstanden werden kann (fortgeschrittene Demenz), wird in der Regel eine Haftunfähigkeit festgestellt.

Wenn eine die Lebenszeit limitierende Diagnose gestellt wurde und die Prognose mit hinreichender Sicherheit so ist, dass das Ableben nach einer bestimmten Zeit zu erwarten ist, wird in allen Fällen Kontakt mit der zuständigen Staatsanwaltschaft aufgenommen, um eine Entlassung aus der Haft zu erreichen. Erfahrungsgemäß kann die Enthaftung auch erreicht werden.

Es kommt jedoch auch vor, dass Häftlinge gar nicht entlassen werden möchten, auch wenn die Möglichkeit dazu bestünde. Gelegentlich wird schon vor Eintreten dieses Zustandes der vollständigen Deso-rientierung oder Pflegebedürftigkeit vom Patienten gewünscht, nicht aus der Haft entlassen zu werden, weil extern keine gewünschten Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. In diesem speziellen Fall werden dann auch palliativ behandelte Patienten mit verbliebener langer Haftzeit nicht auf dem Wege einer Haftunfähigkeit aus der Haft entlassen.

Interview: 3 Fragen an Thomas M.*, Pflegekraft an der JVA Hövelhof

*Name wurde von der Redaktion geändert
1. Ihre Arbeit an der JVA setzt gleich eine doppelte Qualifikation voraus: Neben den umfangreichen pflegerischen Kenntnissen müssen Sie ja auch psychologisch im Umgang mit Inhaftierten geschult sein. Gibt es hierfür eine Zusatzqualifikation, die sie erwerben mussten, oder wie haben Sie sich diese Kenntnisse angeeignet?

Im Rahmen der 3-jährigen Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung sind neben den somatischen Krankheitsbildern auch die psychischen Erkrankungen ein Bestandteil der Ausbildung. In diesem Unterricht wird nicht nur der pflegerische Aspekt vermittelt, sondern auch der Umgang mit psychisch erkrankten Patienten.

Die Kollegen, die zusätzlich die 2-jährige Ausbildung zum Justizvollzugsbeamten absolviert haben, werden noch konkreter im Umgang mit psychisch erkrankten Gefangenen geschult. In diesem Unterricht werden die Kollegen auf mögliche Anzeichen und Gefahren im Umgang mit den betroffenen Gefangenen sensibilisiert.
Des Weiteren werden in den Justizvollzugsanstalten Fortbildungen im Bereich psychologischer Erkrankungen angeboten. Hier werden neue Erkenntnisse vermittelt und die Kollegen werden auf den neuesten Stand geschult. In der Anstalt selbst ist ein psychologischer Dienst eingerichtet. Dieser befasst sich direkt mit den Gefangenen und die Bediensteten können bei Nachfragen Rücksprache mit ihm halten.

2. Wie gelingt es Ihnen, die sehr unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Häftlinge unter einen Hut zu bringen? Werden hier spezielle Gruppen zusammengestellt, deren Mitglieder miteinander gut zurechtkommen, oder ist das nicht nötig?

Wenn ein Strafgefangener in der Anstalt aufgenommen wird, wird vom psychologischen Dienst die Gemeinschaftsfähigkeit geprüft. Anschließend werden vom Arzt die Compliance (kooperatives Verhalten des Patienten) des Strafgefangenen sowie die Krankengeschichte festgestellt. Die Justizvollzugseinrichtung ist bestrebt, möglichst viele individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen.

Außenansicht de Gebäudes der Pflegeabteilung der JVA Hövelhof.
Außenansicht des Gebäudes der Pflegeabteilung der JVA Hövelhof.

Der Aufenthalt im Freien ist gesetzlich auf den Mindeststandard von 1 Std. pro Tag festgelegt. In unserer Pflegeeinrichtung haben die Gefangenen die Möglichkeit, sich morgens für eine Stunde und nachmittags für 1 ½ Stunden unter Aufsicht im Freistundenhof zu bewegen. Es werden auch Gruppen zusammengestellt. Zum Beispiel die Spielegruppe, die vom Psychologischen Dienst geleitet wird. In dieser Gruppe werden Kartenspiele oder Gesellschaftsspiele gemeinsam mit den Gefangenen gespielt. Eine weitere Gruppe ist die Sportgruppe, die im Rahmen der Krankengymnastik gemeinsam im Sportraum ihrer sportlichen Aktivität nachgehen kann.

Der Pflegenotstand macht auch vor den Gefängnissen nicht halt, sodass die Auswahl an möglichen Arbeitgebern bei Ihnen sicher groß war. Warum haben sie sich gerade für die Arbeit an der JVA entschieden?

Nach meinem Examen habe ich eine Zeit lang auf einer unfallchirurgischen Abteilung gearbeitet. Anschließend wechselte ich auf die Intensivstation. Mir machte die Arbeit immer viel Spaß, jedoch änderten sich die Umstände zunehmend ins Negative. Abteilungen wurden zusammengelegt. Die Patientenanzahl wurde immer größer. Neues Personal wurde nicht eingestellt. Ich stellte mir irgendwann die Frage: Wenn die Krankenhäuser doch mit professioneller Pflege werben, wer soll dieses umsetzen, wenn das examinierte Personal dafür fehlt? Und dies würde früher oder später zum Nachteil der Patienten führen.

Der Strafvollzug bot mir ein gutes Gehalt, einen sicheren Job und viele Möglichkeiten der Weiterbildungen. Des Weiteren wurde mir die Möglichkeit eröffnet, eine Ausbildung zum Justizvollzugsbeamten zu absolvieren. Die Arbeit ist unter diesen Bedingungen nicht immer einfach, aber sie ist sehr interessant und abwechslungsreich. Ich bereue nicht, diesen Schritt gemacht zu haben. Ganz im Gegenteil: In den vergangenen 5 Jahren habe ich sehr viel dazugelernt und arbeite in einem sehr gut funktionierenden Team, auf das ich mich jederzeit verlassen kann.

 

Fotos: Frank Baucke, JVA Bielefeld-Senne, JVA Hövelhof, Nils Weymann/123rf.com, pixabay.com

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