Sprechen ist ein hochkomplexer Vorgang. Unser Gehirn muss eine Vielzahl von Impulsen empfangen und weiterverarbeiten, damit der Sprechvorgang flüssig klappt. Einige dieser Abläufe sind bei stotternden Menschen beeinträchtigt. Das Gehirnareal, das für die Steuerung der Sprechmuskeln zuständig ist, wird von den anderen beteiligten Arealen nicht störungsfrei beliefert. So misslingt die Vorbereitung auf die anstehende Sprechaufgabe – der Mensch stottert. Stottern ist also eine neurologisch verursachte Störung des Redeflusses. Sie lässt keine Rückschlüsse auf die Intelligenz, den Charakter oder die Herkunft der betroffenen Person zu. Typischerweise tritt Stottern erstmalig zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr auf, wobei es beim Großteil dieser Kinder wieder weggeht. Doch bei einigen Kindern bleibt es dauerhaft. So stottert gut 1 % aller Erwachsenen, in Deutschland mehr als 800.000.
Stottern ist als Behinderung anerkannt
Schulkinder haben zum Beispiel Anspruch auf Nachteilsausgleich. Die Auswirkungen von Stottern werden oft unterschätzt. Dabei können psychische Belastungen wie Ängste oder ein Verlust des Selbstwertgefühls selbst bei Betroffenen entstehen, deren Stottern von außen gesehen als leicht empfunden wird. Viele stotternde Menschen schämen sich für ihre Sprechweise und fürchten negative Reaktionen darauf. Im schlimmsten Fall führt es zu einem Rückzug aus der Gesellschaft, einer selbst gewählten Isolation. So sind die für jeden hör- oder sichtbaren Symptome nur die Spitze eines Eisbergs Stottern, dessen größter Teil für Außenstehende unsichtbar bleibt.
Obwohl eine Heilung nach der Pubertät eher selten ist, ist doch das Leiden am Stottern heilbar. Es haben sich zwei Hauptrichtungen entwickelt, auf denen die meisten Angebote der qualifizierten Stotterthera-pie basieren und die inzwischen auch miteinander kombiniert werden können: das sogenannte Fluency Shaping und die Stottermodifikation. Durchgeführt werden sie ambulant in Praxen für Logopädie oder akademischer Sprachtherapie sowie stationär in speziellen Einrichtungen.
Für eine gute Stottertherapie ist es nie zu spät, aber sie braucht Zeit.
Beide Behandlungswege erfordern mehrmonatiges Üben und oft jahrelange Nachsorge.
Weitverbreitet ist übrigens die Meinung, Stottern läge allein an einer falschen Atmung. Diese Einschätzung ist falsch. Wer stottert, entwickelt dadurch zwar meist eine veränderte Atmung beim Sprechen, und durch Atemtechniken wie auch durch viele andere verfremdete Sprechweisen kann man Stottern schnell deutlich verändern. Diese Techniken allein sind jedoch fast nie langfristig erfolgreich und im Alltag schwer durchzuhalten.
Es gehört sehr viel Übung und kontinuierliches Training dazu, die in der Therapie erlernten Techniken in den Alltag zu übertragen. Eine Selbsthilfegruppe bietet Stotternden dafür ein gutes Übungsfeld. Möglichkeiten, sich auszuprobieren und Sprechängste zu überwinden, gibt es dort auch unabhängig von einer Therapieerfahrung. Das reicht von praktischen Übungen wie Telefonaten oder Vorstellungsgesprächen bis hin zu Alltagstrainings. Dabei lässt sich die Gruppe gezielt auf Sprechsituationen im öffentlichen Raum ein, beispielsweise bei Bestellungen in einem Lokal. Auch die Übernahme von Aufgaben wie die Gestaltung eines Gruppenabends oder die Teilnahme an Seminaren der Selbsthilfe stärken gegen die Isolation. Und nicht zuletzt bietet die Selbsthilfe soziale Kontakte, Geselligkeit und durchaus auch Spaß.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Martin Sommer
Informationen und eine unabhängige Beratung rund ums Stottern sowie Kontakt zu den rund 90 Selbsthilfegruppen stotternder Menschen gibt es bei der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V., www.bvss.de, Telefon 0221 139 1106, info@bvss.de.
Fotos: mimithian/unsplash.com, Aleksandr Davydov + Katarzyna Białasiewicz/123rf.com, Roman Yanushevsky/shutterstock.com