„My ability is stronger than my disability“ – „Meine Fähigkeit ist stärker als meine Unzulänglichkeit“ – unter diesem Motto stand ein Quiz für rund 500 junge Menschen in Chennai/Tamil Nadu/Indien. Daran nahmen Jugendliche mit verschiedenen Behinderungen teil, die sich durch dieses „Quizable“ Gehör und Anerkennung verschafften und so etwas wie den Beginn einer Integration einleiteten. Teams von drei bis vier Kindern/Jugendlichen und ihre Assistenten saßen sich gegenüber und ein junger Quizmaster stellte Fragen aus allen Bereichen des alltäglichen Lebens. Diese Fragen wurden vorgelesen und gleichzeitig per Beamer gezeigt.
Wenn Karin Kruska und Petra Hohenhaus-Thier von ihrem Einsatz bei der „Spastn“ – The Spastic Society of Tamil Nadu – berichten, werden Begeisterung und Überzeugung spürbar: Begeisterung und Überzeugung von ihren eigenen Möglichkeiten, den Kindern, deren Eltern und Lehrern Hilfe und Anregung zu geben, Begeisterung und Überzeugung, den Menschen mit Behinderung ihre eigenen Fähigkeiten bewusst zu machen – und die Überzeugung und Notwendigkeit, auch unseren Blick auf Menschen mit Behinderungen zu verändern, nämlich nicht nur die Behinderung zu sehen, sondern die vielen Kompetenzen der Menschen.
Karin Kruska (69, Physiotherapeutin) und Petra Hohenhaus-Thier (63, Ergotherapeutin) sind, so empathisch sie auftreten, keine abgehobenen Missionarinnen. Im Gegenteil, sie stehen voll im Leben, einem Leben mit unendlich vielen Facetten.
Das ist die eigentliche Geschichte, die hier erzählt werden soll. Die Episode mit dem Quiz haben die beiden Kielerinnen in einem Projekt erlebt, zu dem sie durch den Senior Experten Service (SES) geschickt wurden. Der SES mit Sitz in Bonn ist eine Stiftung, die Ruheständler, aber auch Menschen, die noch im Berufsleben stehen, in Einsätze entsendet – und im Übrigen ständig sucht. Dort sollen sie Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Für Karin Kruska und Petra Hohenhaus-Thier ist der SES eine Institution, die in idealer Weise ihre Lust auf Reisen, Interesse an Menschen und fremden Kulturen – und letztlich – ihre beruflichen Fähigkeiten bündelt.
Wer sind die beiden Frauen? Karin Kruskas beruflicher Werdegang beginnt mit einem „Eigentlich“. Sie hatte ein Lehramtsstudium begonnen. Der Abschluss erfolgte mehr auf Drängen ihrer Eltern und sie bog vor dem Einstieg in eine Schullaufbahn ab. Sie lernte in Göttingen Physiotherapie, Bobath-Therapie und schloss eine dreieinhalbjährige Gesprächsführungsausbildung an. „Weil ich häufig erleben musste, dass Familien mit behinderten Kindern in einer großen Hilflosigkeit und Trauer lebten.“ In solchen Extremsituationen sei es dann eben gut, sie nicht nur aus dem Bauch heraus zu begleiten, sondern mit fundierten Techniken. „Wenn ich mit Kindern arbeite, habe ich immer die Eltern mit im Gepäck.“ Dieses Wissen kann sie nun weitergeben an Therapeuten, Pädagogen, Kinderärzte. „In allen meinen Einsatzländern war eine entsprechende Ausbildung entweder gar nicht oder nur sehr rudimentär vorhanden.“
Petra Hohenhaus-Thier arbeitet seit 1980 als Ergotherapeutin und erlernte ebenfalls die Bobath-Therapie. Ähnlich wichtig wie bei Karin Kruska ist für Petra Hohenhaus-Thier die Rolle der Kommunikation: Als ausgebildete Kommunikationspädagogin für Unterstützte Kommunikation sucht sie nach Möglichkeiten, den Menschen bei unzureichender Lautsprache sprachergänzende oder -ersetzende Hilfen zu verschaffen, etwa durch Fotos, Symbole, Gebärden oder auch elektronische Medien.
Aus der beruflichen und geografischen Nähe entstand auch eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die zu einem „Dreamteam“ (Hohenhaus-Thier) zusammenwuchsen. Fast deckungsgleich ist die Verbindung zum Senior Experten Service. Bei Karin Kruska, seit 1997 in eigener Praxis, in der sie jetzt als Rentnerin für drei Tage in der Woche angestellt ist, wurde dieser SES-Keim schon 1978 gelegt. Sie besuchte einen Freund im Jemen, der dort als Entwicklungshelfer tätig war.
Petra Hohenhaus-Thier, die noch beim Sozialdienst katholischer Frauen e. V. Kiel im St. Antoniushaus arbeitet, erzählt, dass sie von zwei Seiten beeinflusst worden sei: Da war zum einen ihre Kollegin Kruska, die ihr von den umfangreichen Auslandserfahrungen vorschwärmte. Ihr Mann schließlich war für andere Träger im Kosovo, in Albanien und in Serbien in Sachen Justizaufbau unterwegs.
Als dann der SES Experten für die Mongolei suchte, war dies für Petra Hohenhaus-Thier der letzte entscheidende Schub: „Ein Sehnsuchtsland, der Herzöffner“ – und die Auslandspremiere für das Kieler Dreamteam.
Warum machen die beiden Therapeutinnen das, warum nicht die Annehmlichkeiten des „wohlverdienten Ruhestandes“ oder die Routine des Alltags genießen?
„Ich habe die Chance gehabt, in meinem Leben unheimlich viel lernen zu dürfen“, sagt Karin Kruska: Studieren, Projekte, Fortbildungen. Ihre Überzeugung: „Ich kann davon abgeben.“ Fast schon entschuldigend nennt sie ein weiteres Motiv: „Ich reise gern.“ Und durch ihre Einsätze habe sie Dinge kennengelernt, die man als herkömmlicher Tourist eben nie kennenlernen würde. „Ich schaue mehr hinter die Fassaden, verstehe, welchen Einfluss die Religion auf das Leben etwa in Indien hat, welche Rolle soziale Hierarchien spielen.
Petra Hohenhaus-Thier bestätigt. „Ich lerne, wie Menschen woanders leben – und komme bereichert zurück.“ Ein Geben und Nehmen.
Was geben die beiden Kielerinnen? In allen Einsätzen ging es um Einrichtungen für schwerst- und mehrfachbehinderte Kinder. Frau Kruska und Frau Hohenhaus-Thier als Kinder-Bobath-Therapeutinnen begleiten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit primär neurologischen angeborenen oder erworbenen Erkrankungen/Syndromen.
Es ist sehr wichtig, die Eltern untereinander zu vernetzen, damit sie sich gegenseitig Halt bieten, organisieren, trösten können – Werkzeuge an die Hand geben, wie Petra Hohenhaus-Thier das nennt.
Das hört sich fast technisch an, dabei steckt oft nahezu detektivischer Spürsinn dahinter. Petra Hohenhaus-Thier erinnert sich an ein achtjähriges indisches Mädchen mit schwersten Behinderungen. „Es hat immer nur geschrien, es war nicht zu beruhigen.“ Auffallend: Das Kind trug Handschuhe, damit es sich die Finger nicht in den Mund steckte. Vor allem der Vater bestand darauf, schließlich sei das kein Verhalten eines achtjährigen Kindes! In der Einzelarbeit mit Kind, Mutter und Lehrer stellte die Kielerin fest, dass sich das Kind auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes befand. In dem Moment, in dem man dem Mädchen die Handschuhe auszog und es die Hand in den Mund stecken konnte, blühte das Mädchen auf, nahm Blickkontakt auf, lächelte, beruhigte sich. „Die Mutter, die Lehrerin und ich waren den Tränen nahe und über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg so tief miteinander verbunden, dass ich heute noch Gänsehaut kriege, wenn ich daran denke.“
Eigentlich sind die Fragen in allen Ländern und Kulturen gleich: Was ist mit meinem Kind? Was wird aus ihm? Wie kann ich ihm helfen?
Und auf dem Weg zu dieser Hilfe begleiten die beiden deutschen Frauen die Familien im In- und Ausland: Sie nehmen die Kinder, die Eltern, die Betreuer an die Hand, wohl wissend und in der Absicht, sie später dann loslassen zu müssen.
Karin Kruska und Petra Hohenhaus-Thier sind also in mehrfacher Hinsicht unterwegs: für die Kinder mit Behinderungen, ihre Eltern, Therapeuten, Erzieher, Studenten, Lehrer, Ärzte. Vielleicht sind sie ermutigend auch für andere Berufstätige, die einmal über den Tellerrand blicken wollen, und für Ruheständler, die noch Kraft und Lust haben, ihr Wissen weiterzugeben.
„My ability is stronger than my disability.“ Das Motto für das Quiz in Indien, es gilt auch für die Senioren hierzulande. Runter vom Sofa, rein ins Abenteuer Leben! Man kann sich in so vielen Bereichen engagieren. Einer davon ist eben der Senior Experten Service.
Mehr zum Senior Experten Service finden Sie auf www.ses-bonn.de