StartGesundheitLos, raus mit euch!

Los, raus mit euch!

Gestresst? Dann gönnen Sie sich einen Gang ins Grüne. Von Bäumen umgeben, kommen wir von ganz allein zur Ruhe und stärken unsere Gesundheit. Verblüffende Erkenntnisse darüber, wie groß der Einfluss der Natur auf uns Menschen ist.

Ein ganz normaler Wochentag in einem zentralen Hamburger Stadtteil: Hohe Altbauten reihen sich dicht an dicht entlang einer zweispurigen Straße. Ein Auto folgt auf das andere, dazwischen Transporter von Lieferdiensten, Taxis, Motorräder. Im Fünf-Minuten-Takt fahren Busse vorbei. Das Verkehrsrauschen ebbt kaum einmal ab. Hupend versucht ein eingeparkter Autofahrer den Besitzer des Verkehrshindernisses herbeizuordern. In der Baulücke gegenüber quietscht ein Kran bei jedem Arbeitsgang. Das Wohnungsfenster öffnet man bei diesem Krach allenfalls kurz zum Lüften.

Wir sind nicht für das urbane Leben gemacht

Die permanente Reizüberflutung ist stressig. Und dieser Stress kann Leiden auslösen – von Bluthochdruck bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. „Menschen lebten Millionen Jahre in einer natürlichen Umgebung. Erst vor etwa 200 Jahren änderte sich das langsam“, erläutert Katrin Kraft, Professorin für Naturheilkunde an der Universität Rostock. „Unsere Körperfunktionen haben den Umzug in die Stadt jedoch nicht mitgemacht. Sie sind noch an ein Leben in der Natur angepasst.“ Daher unsere Sehnsucht nach Wiesen und Wäldern.

Aber was genau bewirkt der Kontakt mit der Natur bei uns? Dieser Frage widmen sich Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen. „Mittlerweile gibt es Zehntausende Beweise dafür, dass Naturerfahrungen körperliches und seelisches Wohlbefinden begünstigen“, weiß der Psychoanalytiker Prof. Ulrich Gebhard von der Universität Hamburg. „Sie sind ein Anti-Stress-Faktor. Die Natur wirkt gewissermaßen als Stimmungsaufheller. Nach einer Wanderung haben Sie positivere Gedanken.“ Die Natur scheint eine regelrechte Kraftquelle zu sein, dazu zählt auch die Steigerung unserer Konzentrationsfähigkeit nach zehn Minuten im Grünen.

Der Aufenthalt im Wald tut Menschen gut.

Zwei alte Bäume im AbendlichtBesonders die vielfältigen Einflüsse des Waldes auf den Menschen stehen im Fokus der weltweiten Forschung. In einem Punkt stimmen alle bisherigen Ergebnisse überein: Der Aufenthalt inmitten von Bäumen senkt das Stressniveau und hat präventive sowie gesundheitsfördernde Effekte. Der würzig-erdige Geruch, das Zwitschern der Vögel, das grünlich schimmernde Licht, der weiche Boden – all das ist eine Wohltat für den Menschen. Wissenschaftler sprechen von „soft fascinations“ – angenehmen Sinneseindrücken, die das Gehirn nicht fordern und ihm so die Chance geben, sich zu erholen.

„Der Wald ist für uns etwas Altbekanntes, eine vertrauensvolle Umgebung für unser Gehirn. Entsprechend reagiert es hier mit Entspannung und Ruhe“, erläutert Professor Andreas Michalsen, Arzt für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin. „Nach nur wenigen Minuten im Wald wird das Level des Stresshormons Cortisol gesenkt, der Blutdruck fällt, der Pulsschlag beruhigt sich. Obendrein werden natürliche Killerzellen aktiviert, das Immunsystem also gestärkt“, so der Autor des Buches „Heilen mit der Kraft der Natur“. Schon der Blick ins Grüne tut uns gut: Krankenhauspatienten, die von ihrem Fenster auf Bäume sehen konnten, wurden schneller gesund als jene, die nur auf eine Wand blickten, so das Ergebnis einer schwedischen Langzeitstudie.

Der Wald gilt vielen Medizinern als älteste Apotheke der Welt. In Japan und Südkorea wird er längst entsprechend therapeutisch eingesetzt: „Shinrin-Yoku“ (zu deutsch: Baden in Waldluft oder auch Waldbaden) – ärztlich verordnete Spaziergänge durch den Wald – sind dort schon seit den 1930er-Jahren ein fester Bestandteil der Gesundheitsvorsorge. Auch in Deutschland findet Waldbaden inzwischen immer mehr Anhänger. „Wichtig ist, ohne Leistungsgedanken in den Wald zu gehen. Also weder mit dem Mountainbike durchzubrettern noch mit einem Pulsmesser am Arm zu joggen“, rät Michalsen. Dadurch nehme man sich den eigentlich entspannenden Effekt. Es gehe darum, achtsam spazieren zu gehen und die Sinneseindrücke des Waldes aufzunehmen.

Dass die Wirkung noch weit über gesundheitliche Aspekte hinausgeht, interessiert den Sportwissenschaftler Dr. Gunnar Liedtke: Er erforscht, inwieweit sich der Aufenthalt in der Natur auch auf das Wertebewusstsein der Menschen auswirkt. „Natur kann ein Anlass sein, zurückzufinden zu dem, was man als wichtig erachtet. Wer längere Zeit in der Natur verbringt, weiß besser, Prioritäten zu setzen“, so die Erkenntnis des Hamburger Wissenschaftlers.

Ein Drittel der Laub- und Nadelbäume sind geschwächt

Rund einem Drittel des deutschen Waldes – also rund 30 Milliarden Bäumen – geht es zurzeit allerdings nicht gut. Das zeigt der Waldzustandsmonitor der Technischen Universität München, der Jahr für Jahr die Vitalität der Bäume anhand von Satellitenaufnahmen darstellt. Schon der Sommer 2018 war zu trocken und zu warm, genau wie der Sommer 2019 – Laub- und Nadelbäume sind dauergestresst, bereits im Sommer verfärbten sich erste Blätter braun. Angeschlagene, ausgedörrte Bäume sind bei Stürmen nicht standhaft und anfälliger für Schädlinge.

Dazu kommt: Der Borkenkäfer vermehrt sich bei hohen Temperaturen besonders schnell und fällt über Nadelbäume her. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) spricht vom Waldsterben 2.0, dem zweiten Waldsterben nach der Krise in den 1980er-Jahren. Experten diskutieren längst, was passieren sollte, damit der Wald den Klimawandel übersteht. Sich in der Natur aufzuhalten, hat für die meisten Deutschen einen hohen Stellenwert. Doch dieser Einstellung zum Trotz entfremden wir uns zunehmend von ihr und zerstören sie sogar: 70 Prozent aller für Deutschland typischen Lebensräume von alpinen Lärchenwäldern bis hin zu Waldmeister-Buchenwäldern werden bereits als „gefährdet“ eingestuft, mehr als ein Viertel aller Pflanzen- und ein Drittel aller Tierarten Deutschlands sind in ihrem Bestand bedroht.

Mangelnde Nähe zur Natur kann krank machen

,Ein Waldweg„Geht nach draußen zum Spielen!“ Mit diesen Worten komplimentierten uns unsere Eltern standig vor die Haustür. Heute sind Kinder, die ohne Reglementierung im Freien spielen, eher die Ausnahme. Der Großteil der Freizeit ist mit Kursen verplant, Mädchen und Jungen verbringen bis zu sechs Stunden täglich vor Computer oder Smartphone. Diese Entwicklung macht den Menschen krank, fürchten Wissenschaftler. „Vermutlich ist mangelnde Naturnähe sogar eine Mitursache für Volkskrankheiten wie Adipositas, also krankhaftes Übergewicht, oder Depression“, sagt Prof. Kraft.

Australische Forscher konnten einen Zusammenhang nachweisen zwischen der steigenden Zahl von Kurzsichtigkeit bei Kindern und fehlendem Tageslicht: Mangelt es an der natürlichen Lichtquelle, wächst der Augapfel zu stark in die Länge – Hauptursache für Kurzsichtigkeit. Bei Kindern wird bereits von einem „Nature Deficit Syndrome“ gesprochen, ihnen fehle vor allem Vitamin N – Natur. Naturheilkundler Michalsen hält das für eine durchaus treffende Beschreibung: „Mangelnde Nähe zur Natur zeigt sich bei Kindern heute beispielsweise auch darin, dass sie motorisch deutlich weniger geschickt und beweglich sind, zudem leiden sie häufiger an Vitamin-D-Mangel.“

Städte brauchen ausreichend Parks und Grünflächen

Jeder Aufenthalt im Grünen tut uns gut und jeder einzelne Baum hilft. Zahlreiche Studien zeigen: Bewohner einer grünen Umgebung haben ein geringeres Risiko, Herz- oder Atemwegsleiden sowie Angsterkrankungen zu entwickeln. „Daher ist es umso wichtiger, dass auch in den Städten ausreichend Parks und Grünflächen für die Menschen vorhanden sind“, so Prof. Michalsen. ,,Beim Städtebau muss man zudem an neue Freiflächen und Flächenbegrünung denken.“ Das hat positive Effekte fürs Stadtklima, sorgt für bessere Luft und kühlere Temperaturen im Sommer. Das sieht auch Prof. Gebhard so: „Gesundheitsargumente werden bei politischen Entscheidungen im Hinblick auf die Stadt- und Landschaftsplanung immer wichtiger.“

Eine Langzeitstudie unter Bewohnern von 32 großen deutschen Städten ergab: Mit der Nähe zu einer Grünanlage wächst die Lebenszufriedenheit. Das ahnte schon der deutsche Romantiker Ludwig Tieck (1773–1853), als er notierte: „Erst unterm Blätterhimmel wird der Mensch zum Menschen.“

Ein Beitrag von Sonja Baulig

Erschienen in der Centaur Magazin Ausgabe April 2020

Fotos: Pixabay.com, Lukasz Szmigiel und Irina Iriser/unsplash.com
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