Warum müssen wir uns immer vergleichen? Aus der queeren Community hört man immer wieder, dass Bisexuellen, die sich in einer Heterobeziehung befinden, vorgeworfen wird, nicht queer genug zu sein. Und dürfen sich Menschen, die Einschränkungen beim Laufen haben, aber eben nicht im Rollstuhl sitzen, überhaupt als behindert bezeichnen? Stopp! Das ist natürlich eine rhetorische Frage.
Ein eigener Erfahrungswert
Und ich habe dazu ein kleines Anekdötchen vorbereitet: Vor einigen Monaten war ich zu einer Party eingeladen, auf der man noch seriöse Gespräche führen konnte. Da entwickelte sich außerhalb der Partylocation ein Dialog mit einem jungen Mann, der plötzlich ziemlich emotional wurde. Er erzählte mir (sein ganzes Leben – huch – und eben auch), dass er im Kindergarten bei einem Unfall auf dem Spielplatz einen Teil seines rechten Zeigefingers verlor. Ich hörte aufmerksam zu und versuchte, ihn zu trösten, als er mir schilderte, wie sehr er noch heute darunter leide. Denn neben schlimmen Mobbingerfahrungen trug er nach wie vor das Gefühl in sich, seine Hand verstecken zu müssen, und das schade seinem Selbstwert enorm. Ich konnte ihn gut verstehen und seine Situation irgendwie nachvollziehen, ohne diese in irgendeiner Weise mit mir in Verbindung zu bringen – Empathie halt.
„Dir fehlt ja viel mehr als mir!“
Plötzlich bemerkte dieser besagte junge Mann, dass ich ebenfalls eine Fehlbildung der rechten Hand zu verzeichnen habe. „Dir fehlt ja viel mehr als mir!“, stellte er erschrocken fest. Und wirkte dabei leicht peinlich berührt darüber, dass er mir zuvor von seinem Leidensdruck berichtet hatte. „Na und?“, antwortete ich. „Ich fühle mich ja vollständig und bin mittlerweile ganz cool mit meiner Behinderung.“
Warum kategorisieren? Glück vergleichen wir doch auch nicht.
Na, merkt ihr was? Wenn wir immer nur vergleichen, hierarchisieren und labeln, wo landen wir dann? Ja, ich weiß: Diese Kategorien sind auch irgendwo sinnvoll und ersparen uns viel Zeit und Hirnkapazität. ABER: Das heißt nicht, dass wir sie nicht hinterfragen sollten. Glück vergleichen wir doch auch nicht. Oder wie der Comedian Kaleb Erdmann einst sagte: „Wenn du ein Geldstück findest und dich darüber freust, dann sag ich dir ja auch nicht: ‚Woanders heiraten gerade zwei Menschen, was meinst du, wie glücklich die sind?‘“
Behindert genug
Aus dieser Ironie soll hervorgehen, dass man Glück eben nicht vergleichen kann. Und Leid auch nicht. Und Behinderung, Diskriminierungserfahrungen, Schmerz, Traumata oder Queerness ebenfalls nicht. Ach überhaupt. Was soll das bringen? Das tut halt den Menschen weh, die sich darüber austauschen möchten, ohne bewertet zu werden. Lasst uns doch mit diesen Selbstbezeichnungen offen umgehen und sie niemandem absprechen. Ich bin behindert. Behindert genug.
Diversität in der Mode
Diese Vergleiche am Beispiel der Behinderten-Community gehen mir natürlich auch in anderen Bereichen auf den Keks. Und die kommen definitiv nicht nur von Behinderten selbst. So wird in der Modewelt in letzter Zeit immer häufiger Behinderung als Diversitätsmerkmal genutzt, und hier ist die Art der Behinderung keineswegs nebensächlich. Eine Modedesignerin erklärte mir, dass sie keine Rollstuhlfahrenden als Models engagieren könne, da die Kleidung im Sitzen anders aussehe. Das mag sein. Aber dann kann von Diversität eben auch nicht die Rede sein.
Geistig oder körperlich behindert?
Denn vielfältig ist es meiner Ansicht nach nicht, wenn dann nur ultrahotte trainierte Paralympics-Athleten:innen mit Carbon-Federfüßen die neuesten Kollektionen unter einem Diversity-Label präsentieren und die Curvy-Models nicht im Bereich eines übergewichtigen BMI landen dürfen. Doch auch innerhalb der eigenen Community passieren solche Unterscheidungen, mit denen niemandem geholfen ist. Körperlich Behinderte protestieren beispielsweise häufig dagegen, nicht als geistig behindert wahrgenommen zu werden. Ich denke, ich verstehe, woher das kommt. Niemand möchte, dass die eigenen Fähigkeiten aberkannt werden. Aber dann muss diskutiert werden, ob diese Unterscheidung sinnvoll oder nicht sogar gefährlich ist. Vielleicht reproduzieren und vervielfältigen wir diskriminierende Strukturen damit sogar.
Ableismus unter Behinderten
Denn auch behinderte Menschen können ableistisch (also behindertenfeindlich) sein. Wenn sie sich beispielsweise beim Dating auf Nichtbehinderte beschränken oder anderen ihre Erfahrungen absprechen bzw. diese hierarchisieren.
Lasst uns darüber mal achtsam nachdenken. Danke schön.