Amelotatismus

Tabuthema oder Win-Win?

Ein großes und stetig brisantes Thema bei Menschen mit Behinderung ist der Amelotatismus. Viele sind mit ihm schon in Berührung gekommen, wie zum Beispiel unsere Autorin Greta. Ihren Beitrag dazu finden Sie hier: https://barrierefrei-magazin.de/artikel/amelos/. Der Begriff Amelotatismus kommt aus dem Griechischen und leitet sich ab aus melo (Glied) und tatis (Zuneigung). Er bezeichnet die sexuelle Vorliebe oder Präferenz für Menschen mit fehlenden Gliedmaßen.

Eine Frage des Blickwinkels?

Amelos (= Männer) und Amelinen (= Frauen) eilt kein guter Ruf voraus. Und im Netz finden sich hierzu unterschiedliche Meinungen. Die Opfer sind Menschen mit Behinderungen, und die Reaktionen reichen von Entsetzen bis hin zur Enttabuisierung. Im Internet findet man so einige Beiträge dazu. In einem Artikel äußert sich eine Ameline, dass sie auf behinderte Männer abfährt, da sie diese attraktiver und sexuell anziehender findet. Demgegenüber erzählt eine Frau, die im Rollstuhl sitzt, dass ihr ehemaliger Freund keinen Sex mit ihr wollte, wegen ihres „Makels“, und ihre ersten sexuellen Erfahrungen machte sie bewusst mit einem Amelo: „Ich bin behindert, und ER findet mich gerade deswegen attraktiv und anziehend.“ Win-Win und alles gar nicht so schlimm?

Eine junge Frau mit gelocktem Haar umgeben von Bäumen und Sträuchern. Sie hält ihre rechte Hand etwa auf Kopfhöhe. Die Finger hält sie zu einer fünf, leicht gespreizt. Ihren Kopf hält sie etwas seitlich.

Vielzahl von negativen Erfahrungen

Das Thema Amelotatismus sorgt für reichlich Gesprächsstoff. Dabei geht es nicht darum, eine Lanze für die Amelotatisten:innen zu brechen oder gar einen Freibrief zu erteilen. Denn es gibt auch sehr schwarze Schafe in dieser Gruppe. Das sind die, die bei Kids-Camps rumlungern, die, die heimlich und ungefragt Fotos von den Objekten ihrer Begierde machen. Das sind die, die penetrant über Fakeprofile Frauen belästigen, sie triezen und nötigen, unverschämt und absolut grenzenlos sind. Auch ich wurde schon einige Male zum Opfer. Anfangs wirkte es verstörend, weil es sich in der ausgeführten Form schmutzig, widerlich und unerhört anfühlte. Aber es gibt auch die Stillen – um nicht zu sagen „Netten“.

Aufrichtige Liebe

Was ich mir definitiv vorstellen kann, ist, dass es Amelos:Amelinen gibt, die ihr Gegenüber tatsächlich lieben, und obenauf kommt der Benefit „ihm:ihr fehlt was“ dazu. Wer einen Menschen um seinetwillen liebt und das persönliche Glück hat, dass die Neigung (um die der potenzielle Partner weiß!) on top erfüllt wird, dann passt doch alles: eine „Er:sie liebt mich mit meiner Behinderung“-Beziehung, und nicht „Er:sie liebt mich wegen meiner Behinderung“-Beziehung. In dem letzten Fall kann man nur empfehlen: Finger weg!

Kategorisierung von Amelos:Amelinen

Ich selbst trage eine Beinprothese. Mein Profil in den sozialen Netzwerken ist ebenfalls öffentlich, und das bleibt auch so, ich möchte mich nicht verstecken. Ich hatte dadurch schon einige Berührungspunkte mit Amelos. Hier der Versuch sie zu kategorisieren:

  1. Wie schon oben erwähnt, gibt es die Unverschämten:
    Sie bitten relativ zügig und ohne Umschweife um Fotos.
  2. Dann sind da die Unehrlichen:
    Sie geben sich zum Beispiel für unschuldige Schüler:Schülerinnen oder Studierende aus, stellen sich ahnungslos, und nach und nach kommen diese dann mit ihrer Bitte um die Ecke. Sie akzeptieren meistens kein Nein.
  3. Ebenfalls gibt es aber auch die Ehrlichen:
    Freundliche Ansprache und Offenheit zur Neigung – damit Mann:Frau weiß, woran er:sie ist. Sie haben keinerlei Ansprüche, wollen nur Kontakt.

Mein Erfahrungsbericht mit einem Amelo

Mein „Letzter“ hatte sich als Frau ausgegeben. Anna. „…durch Zufall auf meinen Account gestoßen“ und angeblich „gar keine Ahnung von Prothesen“, verbunden mit „darf ich dir hierzu Fragen stellen?“ Na dann mal los! Vielleicht hat „sie“ ja wirklich keinen blassen Schimmer? Vielleicht tue ich „ihr“ mit meiner Vorverurteilung Unrecht? Also schrieb ich kurz angehalten, wie die Beinprothese funktioniert. „Hast du ein Gelenk?“, und ich dachte mir nur, schade, offensichtlich nicht genau gelesen. Antwortete aber weiter. Und dann kam sie, die entlarvende Frage! „Ich kann mir nicht vorstellen, wie so ein Stumpf aussieht – kannst du mir ein Foto schicken?“ Das habe ich natürlich nicht gemacht und den Tipp gegeben, zu googeln. Mein Nein wurde nicht akzeptiert. „Ah, ich merke schon, das ist ein sensibles und privates Thema für dich.“ Man(n) versuchte mich, zu triggern, auf infantile Weise. Und zielte darauf ab, dass ich wohl doch nicht selbstbewusst bin und zu mir selbst stehe. Er verstehe gar nicht, warum ich das mit Nacktfotos gleichsetzen würde. Auch ein „Alles Gute Dir“ wurde nicht akzeptiert. Dann kam, dass ich im Sommer bestimmt den Stumpf verstecke und nicht ins Schwimmbad gehen würde. Ausschließlich in der Hoffnung, dass ich wohl meinen, seiner Meinung nach, nicht vorhandenen Mut zusammenfasse und es nicht auf mir sitzen lasse, dass mich meine Behinderung angeblich stark belaste, und ich eben all meinen Mut zusammennehme, um doch nun endlich DIESES Foto zu schicken. „Was stimmt denn bitte nicht mit Dir?“, versehen mit Lach-Heul-Smilys – waren meine letzten Worte. Profil geblockt, Chatverlauf gelöscht.

Woran man Profile von Amelos:Amelinen erkennen kann

Aufklärend möchte ich hinzufügen: Nach der ersten Nachricht bin ich auf das Profil und hatte es mir schon gedacht: Kein Profilfoto, kaum Follower:innen, aber über 380, denen die Person folgt, zum großen Teil Frauen mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Kaum oder keine eigenen Beiträge. Aber ich hatte mich darauf eingelassen. Ich wollte wissen, ob ich recht habe.

Eine junge Frau mit grün-grauen Augen und dunklen Haaren. Über Mund und Nase trägt sie einen petrolfarbenen Schal.

Es kann jede:n treffen

Als behinderter Mensch (egal ob von Geburt an, verunfallt oder durch Krankheit usw.) und Neuling in den sozialen Netzwerken muss man darauf vorbereitet sein. Denn gerade in der ersten Zeit nach Eintritt in „ein neuen Leben“ oder eben der Eröffnung eines sozialen Kontos, in dieser Phase sind viele wie ein offenes Buch, teilen sich anderen mit, erhoffen Zuspruch, brauchen Mut und Motivation, wollen sich einfach austauschen und durchstarten, suchen Antworten etc. – und das zumeist in passenden Gruppen auf Facebook, und dann ist auch mal „so eine:r“ drunter, der:die eben noch nicht enttarnt wurde, man fasst Vertrauen und dann verschickt man Fotos und die werden weiterverwendet, weitergeleitet und für Fakeprofile missbraucht.

Bitte keine Belästigung

Sollen doch alle ihre Vorlieben und Neigungen ausleben, wie sie wollen, aber bitte ohne, Mitmenschen zu belästigen, indem man diesen zu nahetritt. Ich für mich fordere Respekt. Dass Mann oder Frau zu irgendjemandes Begierde wird, kann man in der heutigen Zeit nur mäßig verhindern. Doch kein Mensch muss es dulden oder ertragen, unangemessene Fragen oder Anzüglichkeiten zu bekommen. Beginnt eine Unterhaltung freundlich und höflich und ist der:die Anschreibende sogar anfangs schon offen bezüglich Neigung, geht selbst aber nicht weiter darauf ein, sucht einfach nur Kontakt und es fühlt sich gut an, spricht ja nichts dagegen, einer Bekanntschaft, Freundschaft, Beziehung eine Chance zu geben.

Allen Lesenden möchte ich ans Herz legen: Man ist nicht die Behinderung. Unser Wert misst sich nicht an der Summe der Gliedmaßen oder der Funktionalität des Körpers, sondern an dem, was wir tun. Mit Behinderung ist man kein Opfer, sondern Macher:in. 😉

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