StartGesundheitUnser Leben ist ein ständiger Marathon - Contergan und seine Folgen

Unser Leben ist ein ständiger Marathon – Contergan und seine Folgen

Wenn Georg Löwenhauser eine Flasche öffnet und sich ein Glas Mineralwasser einschenkt, sieht man, wie schwer ihm fällt, was für die meisten Menschen selbstverständlich ist. Er hat sehr kurze Arme, die knapp unterhalb der Schulter ansetzen, eine Folge seiner schweren Conterganschädigung. Ein T-Shirt anziehen, Zähne putzen, Schuhe zubinden – sein Alltag ist eine lebenslange Herausforderung. Georg Löwenhauser ist 1. Vorsitzender des Bundesverbandes Contergangeschädigter e.V. und lenkt zusammen mit drei weiteren Vorständen und drei Beiratsmitgliedern ehrenamtlich die Geschicke des Bundesverbandes. Das Thema Contergan hat sein Leben geprägt.

Der Contergan-Skandal gilt als einer der größten Arzneimittelskandale weltweit. Von 1957 bis 1961 verkaufte das Aachener Pharmaunternehmen Grünenthal millionenfach das Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid.

Contergan galt als so „harmlos wie ein Zuckerplätzchen“ – so der Werbeslogan damals –

,dass es frei verkäuflich war und sogar schwangeren Frauen verschrieben wurde, mit erschütternden Folgen: Rund 10.000 Babys mit teilweise schwersten Missbildungen kamen zur Welt. Viele davon starben schon in den ersten Lebenswochen und Monaten.

Heute gibt es in Deutschland noch rund 2.500 Menschen mit Conterganschädigung. Sie sind mittlerweile zwischen 57 und 61 Jahre alt. Einige haben nur leichte Einschränkungen, andere müssen mit schwersten Mehrfachbehinderungen klarkommen. Besonders auffällig sind fehlende Arme und Beine und missgebildete Hände. Weniger sichtbar, aber genauso schwerwiegend, sind die Hörbehinderungen und Organschäden, unter denen viele leiden. Seit ein paar Jahren kommen die Folgeschäden hinzu, die oft zum unüberwindlichen Hindernis werden: Arthrose, Muskelschwäche und Gefäßerkrankungen machen das Leben noch schwerer. „Vieles, was früher noch möglich war, ist heute für mich undenkbar, so Udo Herterich, der kurze Beine hat und im Rollstuhl sitzt. „Ich brauche mittlerweile ständig Assistenz. Wir müssen Abschied nehmen von der erworbenen Selbständigkeit, das ist für mich die größte Herausforderung, die auf uns zukommt“. Er und Georg Löwenhauser sind, genauso wie die meisten contergangeschädigten Menschen, längst in Rente, da sie nicht mehr arbeiten können.

Viele Betroffene kennen sich seit Jahrzehnten. „Wir laufen uns immer wieder über den Weg. Zum Beispiel waren viele als Kinder zur gleichen Zeit in der Heidelberger Dysmelie-Station oder in München-Harlaching zur Behandlung“, so Vorstandsmitglied Antje Jocher, „kennen sich von langen Krankenhausaufenthalten oder gemeinsamen Ferienreisen. „Einmal im Jahr gab es ein großes Sportfest, das ‚Bundessportfest für Contergangeschädigte‘“, ergänzt Georg Löwenhauser. Das Fest wurde im Wechsel von den Landesverbänden und dem Bundesverband organisiert. Wir haben Fußball gespielt, es gab einen Schwimmwettbewerb und vieles mehr. Viele kennen sich aus dieser Zeit.“

Bereits Anfang der 60er-Jahre gründeten Eltern contergangeschädigter Babys überall in Deutschland regionale Interessengruppen und als Dachverband den „Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder e.V. – Contergankinder-Hilfswerk“. Die Eltern vernetzten sich, engagierten sich für eine gute medizinische Behandlung ihrer Kinder und kämpften von Anfang an für eine finanzielle Entschädigung. Viele Jahre später übernahmen die – mittlerweile erwachsenen – Kinder den Verband und benannten ihn um in „Bundesverband Contergangeschädigter e.V.“. Sie führen ihn bis heute fort, treffen sich regelmäßig, stehen im Austausch mit Politikern und der Conterganstiftung, informieren über Thalidomid und unterstützen Menschen mit Conterganschädigung in vielen Bereichen.

Udo Herterich ist erst seit kurzem Beiratsmitglied im Bundesverband, aber schon 30 Jahre Vorsitzender des Ortsverbandes Köln, zudem seit Jahren Vorsitzender des Landesverbandes NRW. Michael Walzer ist sogar schon 40 Jahre aktiv in der Selbsthilfe. Er hat seinen Posten als Vorsitzender der Ortsgruppe Sigmaringen von seinem Vater übernommen. Jetzt ist er zudem Vorstand im Bundesverband. „Wir machen die Verbandsarbeit wirklich gerne, aber sie ist auch anstrengend und die Kraft lässt nach. Heute sind deshalb nur noch wenige von uns aktiv dabei“, sagen sie.

Der Vorstand und Beirat des Bundesverbandes Contergangeschädigter e.V. (von links nach rechts): Antje Jocher, Georg Löwenhauser, Udo Herterich, Wolfgang Tegtmeyer, Willy Emig, Michael Walzer, Alexander Perschon

„Unser Leben ist ein ständiger Marathon und es wird nicht leichter, denn die Folgeschäden sind gravierend und machen uns zu schaffen.“

Erreicht hat der Bundesverband in seiner 55-jährigen Geschichte sehr viel: Allem voran stehen die Conterganrenten, die als Ausgleich für die Behinderung von der Conterganstiftung an die Betroffenen ausgezahlt werden. Dabei wird die Schwere der Behinderung nach einem speziellen Punktesystem eingestuft – und dementsprechend die Rentenhöhe berechnet. 2013 beschloss der Bundestag, die Conterganrenten deutlich anzuheben, um dem zunehmenden Hilfebedarf im Alter gerecht zu werden.

„Heute kann ich gut von der Conterganrente leben und mir Assistenten leisten, die mir im Alltag helfen“, erzählt Georg Löwenhauser. „Das wäre mit der alten Rente nicht möglich gewesen. Unser Bundesverband hat einen großen Anteil an dieser positiven Entwicklung. Das hat sich für alle contergangeschädigten Menschen in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes ausgezahlt – und wir bleiben natürlich am Ball und begleiten die aktuelle Entwicklung weiter!“ Seine Empfehlung ist ganz klar, dass es sich lohnt, sich ehrenamtlich in der Selbsthilfe zu engagieren und sich für seine Sache stark zu machen. Denn man kann viel erreichen, und gesellig sind die regelmäßigen Treffen natürlich auch.

Weitere Infos und Kontakt:

Bundesverband Contergangeschädigter e.V.

E-Mail: bundesverband@contergan.de

www.contergan.de

„Wir möchten denen eine  Stimme und Hände geben, die sich nicht trauen oder die es selbst nicht können. Vor allem möchten wir auch den Schwerstbetroffenen helfen und ihnen zeigen und sie erleben lassen, dass sie nicht hilflos sind“, Wolfgang Tegtmeyer, Beiratsmitglied des Bundesverbandes Contergangeschädigter e.V.

 

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