StartLeben mit Multiple SkleroseIst die Ursache von Multipler Sklerose endlich geklärt?

Ist die Ursache von Multipler Sklerose endlich geklärt?

Wie hängen MS und das Epstein-Barr-Virus zusammen?

Eine aktuelle Studie zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem EBV und MS und belegt somit langjährige Vermutungen.

Experteninterview mit Dr. med. Alexander Emmer, Klinik für Neurologie, und apl. Prof. Dr. Martin S. Staege, Klinik und Poliklinik für Pädiatrie I, Universitätsklinikum Halle (Saale)

Eine aktuelle US-Studie konnte einen klaren Zusammenhang zwischen dem EBV und MS aufzeigen. Inwiefern hängen EBV und MS zusammen?

Porträtfoto von Dr. med. Alexander Emmer
Dr. med. Alexander Emmer

Dr. Emmer: „Ein Zusammenhang zwischen dem EBV und der MS wurde bereits seit den 70er-Jahren vermutet und zum Beispiel durch den Nachweis erhöhter Antikörperspiegel gegen EBV im Blut von MS-Patient:innen erhärtet. Allerdings blieb unklar (und bleibt es streng genommen aktuell immer noch), ob EBV kausal an der Entstehung der MS beteiligt ist oder die Beobachtungen lediglich auf eine besondere Immunitätslage  in MS-Patient:innen hindeuten. Die aktuelle Studie im Journal „Science“ konnte durch die enorm große Zahl an untersuchten Personen den Zusammenhang zwischen EBV und MS bestätigen. Über den Mechanismus, der dieser Assoziation zugrunde liegt, besteht aber weiterhin Unklarheit.“

Was ist EBV, welche Erkrankungen können durch EBV begünstigt werden, und wer ist davon betroffen?

 Porträtfoto von Herrn apl. Prof. Dr. Martin S. Staege.
Herr apl. Prof. Dr. Martin S. Staege

Prof. Dr. Staege: „Das EBV ist ein humanes Herpesvirus, das ursprünglich in sogenannten Burkitt-Lymphomzellen gefunden wurde. Später wurde nachgewiesen, dass EBV der Erreger der infektiösen Mononukleose (Pfeiffersches Drüsenfieber) ist. Neben dem Burkitt-Lymphom wurde auch für weitere Krebserkrankungen eine Beteiligung des EBV nachgewiesen. So findet sich hierzulande EBV in etwa der Hälfte der Hodgkin-Lymphome – in anderen Erdteilen auch wesentlich häufiger –, aber auch bei anderen hämatologischen (Erkrankungen des Blutes und der blutbildenden Organe) und nicht hämatologischen Neoplasien (zum Beispiel Nasopharynxkarzinome und Magenkarzinome). Interessant ist, dass über 90 Prozent der Erwachsenen mit dem Virus infiziert sind, von denen jedoch nur ein ganz kleiner Teil an den genannten Erkrankungen (oder etwa an MS) leidet. Die meisten Menschen merken nicht bewusst, wenn sie sich mit dem Virus infizieren. Nach der Infektion bleibt das Virus in der Regel lebenslang im Körper latent vorhanden. Eine weitere Eigenheit dieses Virus ist, dass es in den meisten infizierten Zellen vorhanden bleibt, ohne sie zu zerstören. Es werden dann keine neuen Viruspartikel produziert, sondern EBV kann in verschiedenen Latenzformen vorliegen und die befallenen Zellen sogar zur Zellteilung anregen und vor dem Zelltod schützen (Immortalisierung). Dies kann zum Beispiel für die Pathogenese EBV-assoziierter Neoplasien relevant sein. EBV infiziert bevorzugt sogenannte B-Lymphozyten und kann diese zur Vermehrung anregen. Das Immunsystem schützt in der Regel vor diesen EBV-immortalisierten Zellen.“

Ist das EBV allein ausreichend, um eine MS entstehen zu lassen oder bedarf es zusätzlicher Faktoren?

Prof. Dr. Staege: „Offensichtlich ist EBV alleine nicht ausreichend, um eine MS zu verursachen, da nur ein ganz kleiner Teil der mit EBV-infizierten Personen eine MS entwickelt. In der Science-Studie beispielsweise waren circa 95 Prozent der Individuen mit EBV infiziert, es entwickelten aber weniger als 0,01 Prozent eine MS. Weitere exogene und genetische Faktoren scheinen demnach erforderlich zu sein. Vor allem sind gewisse Merkmale des humanen Leukozytenantigen-(HLA-)Systems mit einer deutlichen Erhöhung des Risikos, an MS zu erkranken, vergesellschaftet. Exogenen Faktoren, wie etwa dem Mangel an Vitamin D, werden Rollen beim Zustandekommen der MS zugeschrieben. Auch andere Krankheitserreger, zum Beispiel das humane Herpesvirus 6 (HHV-6), spielen evtl. eine Rolle; seltsamerweise wurde ausgerechnet dieses Virus in der Science-Studie nicht mituntersucht. Unsere und andere Arbeitsgruppen untersuchen darüber hinaus, ob sogenannte endogene Retroviren (ERV) eine Rolle bei der MS spielen könnten. Da nicht alle Menschen die gleichen ERV-Kopien tragen, könnten ERV als genetische Faktoren betrachtet werden, die nur unter passenden Bedingungen – zum Beispiel nach EBV-Infektion und bei Vorliegen eines permissiven Immunsystems – aktiviert werden und dann pathogen wirken. Die genannten Faktoren lassen sich problemlos in Modelle einbinden, die MS als Folge der Interaktion der verschiedenen Komponenten interpretieren. Das Wechselspiel von genetischer Prädisposition (HLA, ERV) und Umweltfaktoren inklusive der Infektion mit EBV könnten so bei einigen wenigen Personen mit ungünstiger Kombination dieser Faktoren zur MS führen. Allerdings sind diese Modelle bislang nur hypothetisch.“

Gibt es noch andere Erkrankungen oder Infektionen, die eine MS begünstigen können?

Objektive eines Mikroskops von der Seite betrachtet.

Prof. Dr. Staege: „Wie bereits erwähnt, wird neben EBV dem HHV-6 eine gewisse Assoziation zur MS zugesprochen. Die epidemiologische Situation ist hierbei ähnlich wie bei EBV. Für andere im Zusammenhang mit der MS diskutierte Krankheitserreger, wie zum Beispiel das Torque-Teno-Virus, Hundestaupevirus etc., ist die Datenlage insgesamt recht dünn.“

Woran ist eine MS zu erkennen? Was sind die häufigsten Symptome?

Dr. Emmer: „Die MS wird auch ‚die Erkrankung der 1.000 Gesichter‘ genannt. Das kommt daher, dass unterschiedliche Symptome, in Abhängigkeit des Auftretens der sogenannten Entzündungsherde im zentralen Nervensystem (ZNS), auftreten können. Es finden sich beispielsweise insbesondere im Anfangsstadium einer MS nicht selten entzündliche Veränderungen des Sehnervs – eine sogenannte Retrobulbärneuritis, die mit einer Sehstörung (meist Schleiersehen) und einem Bewegungsschmerz des Augapfels einhergeht. Viele Patient:innen berichten von Sensibilitätsstörungen, wie zum Beispiel Kribbelgefühl oder Gefühlsausfälle in einer oder mehreren Körperregionen. Auch Koordinationsstörungen und Lähmungen können Symptome einer MS sein. Ferner können auch unspezifische Symptome auftreten, die nicht einem einzelnen Entzündungsherd zugesprochen werden können, wie zum Beispiel chronische Erschöpfung (Fatigue) oder Konzentrationsstörungen. Diese genannten Symptome weisen per se nicht direkt auf eine MS hin und können eine andere Ursache haben. Daher ist die Vorstellung bei dem/der Hausärzt:in und evtl. bei einem/einer Neurologen/Neurologin zu empfehlen.“

Wie kann MS behandelt werden, und welche Therapien sind derzeit die effektivsten?

Dr. Emmer: „Es gibt drei Therapiesäulen: Die sogenannte Schubtherapie wird angewandt, um akut aufgetretene MS-Symptome (sogenannte Schübe) zu beeinflussen. Hierbei werden intravenös verabreichte Glukokortikoide oder selten auch Plasmaaustauschverfahren sowie Immunadsorption angewendet. Die verlaufsmodifizierende Therapie dient dazu, den Langzeitverlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen. Sie führt im Allgemeinen zu einer Reduktion der Schubrate, einer günstigen Beeinflussung des Erkrankungsverlaufes und somit zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Eine wesentliche Rolle spielt auch die symptombezogene medikamentöse oder nicht medikamentöse Therapie in Abhängigkeit des jeweiligen Symptoms. Medikamentös können etwa Spastik oder Schmerzen angegangen werden. Da Infekte MS-Schübe auslösen können, dient eine konsequente Therapie von Infekten der Schubvorbeugung. Bei den nicht medikamentösen Therapien handelt es sich zum Beispiel um Physio- oder Ergotherapie. Die Therapie verfolgt die Ziele, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Patient:innen zu erhalten, ohne die eigentliche Ursache der MS zu beeinflussen. Jenseits dieser therapeutischen Möglichkeiten spielt die allgemeine Lebensführung eine wichtige Rolle. Ausreichend Nachtschlaf, regelmäßige und ausgewogene Mahlzeiten, seelisches Gleichgewicht sowie körperliche Fitness sind ebenso wichtig wie etwa ein ausreichender Vitamin-D-Spiegel. Zigarettenrauchen hat sich als nachteilig für den Krankheitsverlauf erwiesen und sollte vermieden werden. Da Infekte Schübe auslösen können, sollte vermehrt auf Hygiene geachtet werden.“

Kann eine Impfung gegen das EBV vor MS oder anderen Krankheiten schützen?

Prof. Dr. Staege: „Wenn EBV ein essenzieller Faktor für die Entstehung der MS sein sollte, würde durch Verhinderung der Infektion MS evtl. verhindert werden können. Das Gleiche gilt für andere EBV-assoziierte Erkrankungen. Es erscheint allerdings fraglich, ob eine Impfung in der Lage sein wird, die EBV-Infektion wirkungsvoll zu unterbinden. Man hat beobachtet, dass mehrere EBV-Varianten in demselben Individuum auftreten können. Dies spricht dafür, dass trotz der starken Immunantwort gegen EBV eine wiederholte Infektion möglich sein könnte. Ein intaktes Immunsystem schützt zwar gegen die Viruspartikel und auch gegen EBV-immortalisierte schnell wachsende bzw. wuchernde B-Zellen, das Virus schafft es aber regelmäßig, im Organismus in einer Latenzform zu überdauern, die vom Immunsystem nicht angegriffen wird. Da wir bislang keine genauen Vorstellungen von dem Mechanismus haben, über den EBV zur MS beiträgt, und nicht wissen, welche Phase des EBV-Lebenszyklus für die MS-Pathogenese die größte Bedeutung hat, ist der Wert oder Unwert einer Impfung gegen EBV zur Vermeidung von MS derzeit auch überhaupt nicht beurteilbar.“

Wann würde denn eine solche Impfung ggf. zur Verfügung stehen?

Dr. Emmer: „Ob und wann Impfstoffe gegen EBV zur MS-Prophylaxe verfügbar sein werden, ist unklar. Es wird bereits seit Jahrzehnten nach einem Impfstoff gegen EBV gesucht, jedoch bislang ohne wesentlichen Erfolg. Wie bereits gesagt, sollte erst der Mechanismus aufgeklärt werden, damit man weiß, gegen welche Phase des Lebenszyklus von EBV und damit gegen welche Antigene eine Impfung sinnvoll sein könnte. Impfstoffe gegen EBV-induzierte Krankheiten, die auf der EBV-angetriebenen oder EBV-unterstützten Vermehrung von Zellen beruhen, sind gut vorstellbar, und im Bereich der Onkologie gibt es hierzu bereits Erfolg versprechende Ansätze. Aufgrund des besonderen Lebenszyklus des EBV ist es aber nicht sehr wahrscheinlich, dass Impfstoffe die Infektion gänzlich verhindern werden können. Die Corona-Krise hat zwar gezeigt, dass es möglich ist, relativ schnell Impfstoffe zu entwickeln, eine Infektion kann gegenwärtig aber nicht sicher verhindert werden. Bei EBV ist die Ausgangslage durch die besondere Lebensweise des Virus noch komplexer. So werden bereits klinische Studien durchgeführt, die Virusbestandteile als Antigene verwenden und somit die Virionen direkt ins Visier nehmen. Obwohl in diesen Studien durchaus die Bildung von Antikörpern beobachtet wurde und die Impfung eine gewisse Wirksamkeit hinsichtlich der Reduktion der Häufigkeit klinisch manifester Infektionen zeigte (ähnlich wie die Corona-Impfung die Häufigkeit schwerer Krankheitsverläufe senkt), konnte die Impfung asymptomatische Infektionen nicht verhindern. Uns erscheint es an dieser Stelle notwendig – auch um einer möglichen Stigmatisierung der Patient:innen entgegenzuwirken –, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass MS keine Infektionskrankheit im klassischen Sinne ist. Es wäre beklagenswert, wenn sich aufgrund der momentan auch in Laienkreisen zu beobachtenden Diskussion um EBV bei der MS das Gefühl einschleichen würde, MS-Patient:innen wären ansteckend, und dadurch (zumindest EBV-negative) Mitmenschen den Umgang mit diesen Betroffenen meiden, aus Angst davor, sich mit MS infizieren zu können.“

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