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Paul Basagoitia

SEIN LANGER WEG ZURÜCK INS LEBEN

Ein Sturz veränderte das Leben von Profi-Biker Paul Basagoitia radikal: Er musste lernen, mit einer Rückenmarksverletzung zurechtzukommen. Was das heißt, hat er für eine Doku festgehalten.

Ein Mountainbiker fährt, eine kleine Staubwolke hinter sich herziehend, einen schmalen Trail in den Bergen nahe Reno im Bundesstaat Nevada entlang. Manchmal springt er elegant über Bodenwellen. Ein flüchtiger Beobachter würde meinen: Nichts Besonderes – ein Freizeitsportler genießt einen Tag in der Natur.
Und doch ist es ein Wunder: Der Mann auf dem Bike leidet nämlich an einer Querschnittlähmung. Vor seinem folgenschweren Unfall zeichnete sich Paul Basagoitia, 33, vor allem durch eines aus: Er konnte Grenzen verschieben, das anscheinend Unmögliche möglich machen. Wie es aussieht, ist es das Einzige in seinem Leben, was sich seit damals nicht geändert hat.

Rückblende. 16. Oktober 2015, letzter Tag beim Red Bull Rampage in den Canyons bei Virgin, Utah. Der Wettbewerb ist für Biker das, was die 1000-Meter-Granitwand El Capitan im Yosemite-Nationalpark für Kletterer oder die Streif in Kitzbühel für Skifahrer ist: die ultimative Herausforderung für Weltklasseathleten, für alle anderen nicht zu empfehlen.

Paul Basagoitia ist ein großer Name in der Szene, wenngleich er nicht mehr ganz vorn mitmischt. Doch einmal will er hier unbedingt noch auf das Siegerstockerl der ersten drei, bevor er den Spitzensport aufgibt. Er hat die erste Hälfte des Parcours bereits bravourös hinter sich gebracht, eben einen perfekten Salto rückwärts über einen Canyon hingelegt. Doch bei der folgenden Steilstufe passiert es: Er springt eine Spur zu weit, bleibt mit dem rechten Pedal an den Zweigen eines Strauchs hängen und wird über einen drei Meter hohen Felsvorsprung geschleudert.

Paul landet auf dem Rücken. Sein erster Gedanke: „Verdammt, ich hätte gewinnen können!“ Erst dann bemerkt er, dass er seine Beine nicht bewegen kann. Später, im Spital, nach zehnstündiger OP, die niederschmetternde Diagnose: inkomplette Querschnittlähmung. Das heißt: Der 12. Wirbel hat bei dem Sturz das Rückenmark beschädigt, wenn auch nicht ganz abgetrennt. Im Gegensatz zu einer kompletten Querschnittlähmung können dabei zumindest Restfunktionen von Bewegung und Sinneswahrnehmung erhalten bleiben. Trotzdem sagen die Ärzte, dass Paul wohl den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen werde. „Die ersten zwei Wochen mit einer Rückenmarksverletzung“, erinnert er sich, „sind buchstäblich die schlimmsten Wochen deines Lebens.“

Um nicht völlig durchzudrehen, sucht Paul Basagoitia Halt in einem Projekt: Er beschließt, den Weg seiner Reha minutiös mit der Kamera festzuhalten. Damit hat er erstens ein Ziel. Und er würde allen Menschen mit dem gleichen Schicksal zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind.

Ein Jahr nach den ersten Aufnahmen steigt das Red Bull Media House in die Produktion der Doku ein. Im Oktober 2019, fast auf den Tag genau vier Jahre nach dem Unfall, feiert der berührende Film „Any One of Us“ Premiere. „Paul führte zwei Parallelexistenzen“, erzählt Regisseur Fernando Villena. „In der einen lernte er mühsam, mit seiner Verletzung umzugehen. Und in der anderen hatte er ständig eine Filmcrew um sich.“ Die Einnahmen der Doku, die Paul Basagoitia inzwischen zu einem leuchtenden Vorbild der Community gemacht hat, kommen vollständig der „Wings for Life“-Stiftung zugute, deren Ziel es ist, Querschnittlähmung eines Tages heilbar zu machen.

Paul Basagoitia sagt, dass es keine kleine Herausforderung ist, mit dem, was er seinen „neuen Körper“ nennt, leben zu lernen. Es ist ein harter Weg durch ein Tal der Tränen und der Schmerzen und für jemanden, der nicht direkt davon betroffen ist, nicht wirklich im Bereich des Vorstellbaren.
Eine Szene aus dem Film, die schon beim Zuschauen wehtut: Paul stellt fest, dass er nicht so ohne Weiteres seine Blase entleeren kann. Er muss dazu einen 36 Zentimeter langen Katheter durch die Harnröhre einführen. „Als ich das zum ersten Mal tun musste, habe ich nur geschrien“, erzählt er. „Das hat mich echt auf dem falschen Fuß erwischt.“

Paul trainiert jeden Tag in der Früh 90 Minuten intensiv, um winzige Fortschritte zu erzielen. Er hat sich mittlerweile mit der Tatsache abgefunden, dass er unterhalb der Knie wohl nie wieder etwas spüren wird und seine Gesäßmuskeln nie richtig funktionieren werden. Es sei denn, die Rückenmarksforschung schafft Abhilfe. Aber Paul kann immerhin wieder seine Oberschenkelmuskulatur kontrollieren, was ihm den Weg zurück in den Sattel ebnete und eine eingeschränkte Form des Gehens mithilfe eines Stocks zulässt.

Natürlich hat Paul zwischendurch auch dunkle Momente zu überstehen. „Da denke ich mir: Scheiße, bin ich das jetzt wirklich das ganze Leben lang?“ Doch dann ruft er sich wieder ins Bewusstsein, „wie weit ich schon gekommen bin: Du sitzt wieder auf dem Rad, bist komplett unabhängig von der Hilfe anderer. Sei doch froh!“

Im Übrigen habe ihm der Rat eines Freundes auf dem mühseligen Weg in sein neues Leben sehr geholfen: „Er sagte: ‚Du kannst nicht immer zurückschauen im Leben. Das Einzige, was dir das bringt, ist ein wundes Genick.‘ Und das ist verdammt wahr.“

Text: Erstveröffentlichung The Red Bulletin, Fotos: Dewey Nicks/The Red Bulletin
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