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Mode für Menschen mit Sehbehinderung

Ein Interview mit Modedesignerin Anna Flemmer

„Inklusion geht uns alle an.“ Aus dieser Einsicht heraus designt Anna Flemmer Mode, aber auch Alltagshilfen, die Blinden und Menschen mit Sehbeeinträchtigungen den Umgang mit Kleidung erleichtern.

Steckbrief

Name: Anna Flemmer
Alter: 34
Wohnort: Berlin
Seit wann Designerin? Bachelorabschluss in Modedesign 2016, selbstständig seit 2019
Website: annaflemmer.com
Instagram: https://www.instagram.com/anna.flemmer.design/?hl=de
Facebook: https://www.facebook.com/people/Anna-Flemmer-Design/100070632979547/
Linkedin:  https://de.linkedin.com/in/anna-flemmer-782739120

BF: Liebe Anna, du designst Mode und Alltagshilfen für Menschen mit Sehbehinderung. Wie kommst du zu so einer außergewöhnlichen Spezialisierung?

AF: Während meines Modedesign-Studiums suchte ich nach einer Tätigkeit, um aus meinem gewohnten Umfeld des Designs und dessen oft oberflächlichen Problemen herauszukommen. Meine Schwester ist Heilerziehungspflegerin und brachte mich auf die Idee, mich bei der Lebenshilfe zu melden.

Dadurch lernte ich im Jahr 2014 Sophie kennen, damals war sie 14 Jahre alt. Sie ist an Kinderdemenz erkrankt und früh erblindet. Wir trafen uns einmal pro Woche und unternahmen die unterschiedlichsten Dinge. Für mich gab es da keine Grenzen. Wir kochten zusammen, gingen ins Museum oder zum Kinderturnen. Beim Umziehen für das Turnen ist mir aufgefallen, dass sie häufig ihre Kleidung versehentlich auf links anzog. Das frustrierte sie.

An diesem Punkt kam mir der Gedanke: Ich bin doch Modedesignerin, was kann ich verbessern, um ihr mehr Eigenständigkeit zu ermöglichen?

Das war der Anstoß, das Thema Blindheit und Mode in meiner Bachelorarbeit zu beleuchten.

BF: Warum benötigen sehbeeinträchtigte Menschen andere Mode als die, die in den normalen Läden hängt?

AF: Nicht jeder Mensch mit Seheinschränkung benötigt Mode, die auf eine spezielle Behinderung abgestimmt ist. Im jahrelangen Austausch mit den unterschiedlichsten Menschen erfahre ich immer wieder, dass jede Person individuelle Bedürfnisse hat – ganz gleich ob sehend, sehbeeinträchtigt oder blind. In den Gesprächen zeigen sich die Herausforderungen, die Mode im Alltag mit sich bringt. Renate Müller aus Hannover teilte mir zum Beispiel mit, dass sie Pflegehinweise in der Kleidung nicht lesen kann und dadurch auf Hilfe beim Waschen angewiesen ist. Daraufhin entwickelten wir zusammen einen haptischen QR-Code, den man mit einem Smartphone abscannen kann – via Voiceover wird dann vorgelesen, wie das Kleidungsstück gewaschen werden muss. Mir ist es wichtig, Mode nicht nur auf die Kleidung an sich zu reduzieren. Auch der Zugang zu (Online-)Shops sowie zu Informationen über die Modewelt, Stoffe und Materialien muss barrierefrei sein. Aus diesem Grund designe ich zusätzlich Alltagshilfen wie 3-D-Tastkarten für Stoffmuster und andere Hilfsmittel.

BF: Wie schaffst du es als Designerin, die aktuellen Modetrends mit der leichteren Handhabung der Kleidung für deine Kunden:innen zu verbinden?

AF: Mein Ansatz ist nachhaltig, das heißt, ich achte besonders auf Ressourcen und möchte Mode erschaffen, die lange getragen werden kann. Modetrends sind so schnelllebig, jede Saison kommen andere Schnitte, Farben und Materialien. Deshalb ist es mein Ziel, zeitlose Bekleidung zu designen. Es sind Liebhaberstücke, die gut kombinierbar sind.

BF: Wie wichtig ist die Kleidungsfarbe für Menschen mit Sehbehinderung erfahrungsgemäß?

AF: Ehrlich gesagt gibt es da keinen Unterschied zwischen Sehenden und Menschen mit Sehbehinderung. So wie das Interesse an Mode im Allgemeinen. Es gibt Menschen, die sich eingehend mit der Modewelt befassen, und diejenigen, die keinen Wert auf die Farbe oder den Schnitt ihrer Kleidung legen. Was ich oft höre, ist, dass sich einige Blinde und Menschen mit Sehbehinderung für eine bessere Orientierung im Kleiderschrank ein System angelegt haben. Beispielsweise werden Farben mit unterschiedlichen Knöpfen markiert, ein runder Knopf für blaue Kleidung, ein dreieckiger Knopf für schwarze Kleidung. Es gibt auch Farberkennungsgeräte oder Apps, mit denen man die Farbe abscannen kann und die Farbe über eine Sprachausgabe angesagt wird. Wer welches Hilfsmittel verwendet, ist aber auch ganz individuell.

BF: Was sollten unsere Lesenden noch über deine Tätigkeit wissen?

Zwei Finger ertasten auf einer weißen Karte mit schwarzen Punkten das Muster. Im Hintergrund zwei weitere Karten mit Schabrett- und Zebra-Muster.AF: Ich möchte mit meinem Design in die Systeme der Modeindustrie eingreifen, den Alltag für Blinde und Sehbeeinträchtigte erleichtern und zum Umdenken motivieren. Es macht mir großen Spaß, mit meiner Zielgruppe im Design-Thinking-Verfahren neue Lösungsansätze zu entwickeln und zu erforschen. Das Wichtigste für mich ist es, Mode zusammen mit meiner Zielgruppe zu entwerfen, die alltagstauglich und innovativ ist. Deshalb habe ich mich bewusst gegen die Gründung eines eigenen Modelabels entschieden. Mein Fokus liegt auf Dienstleistungen für Unternehmen. Mit meinem Netzwerk aus Menschen mit und ohne Sehbehinderung biete ich Fashionlabels an, barrierefreie Mode für sie zu entwerfen, ihnen beizubringen, was Inklusion bedeutet und wie sie diese in ihre Prozesse integrieren können. Menschen mit Behinderung müssen endlich als Zielgruppe wahrgenommen werden und ganzheitlich Teil der Modeindustrie sein.

BF: Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!

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