StartGesundheitWie funktioniert die traditionelle chinesische Medizin (TCM)?

Wie funktioniert die traditionelle chinesische Medizin (TCM)?

Ein Interview mit Experte Mike Mandl

Der Begriff Akupunktur ist fast jeden schon einmal begegnet. Für viele Menschen ist sie die Methode der TCM schlechthin. Dabei ist diese Therapieform nur eine von vier Säulen in der  Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Aber was ist die TCM eigentlich genau und wie funktioniert sie? Hat sie auch Grenzen. Wir haben bei dem Experten Mike Mandl nachgefragt.

Portraitfoto von Mike Mandl, in schwarz-weiß gehaltenIm Interview: Mike Mandl

BF: Sehr geehrter Herr Mandl, was hat Sie vor langer Zeit dazu veranlasst, sich mit der traditionellen chinesischen Medizin auseinanderzusetzen?

MM: Der Zugang zur Medizin wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Mein Großvater, der mich sehr geprägt hat, war Chirurg und zentraler Pfeiler unserer Familie. Die Themen Gesundheit und Krankheit sowie der medizinische Alltag waren in meiner Kindheit daher sehr präsent und ich begann mich schon früh mit den Fragen zu beschäftigen, warum Menschen überhaupt krank werden müssen und was man bestmöglich dagegen tun könnte. So begann ich mich mit unterschiedlichen medizinischen Systemen auseinanderzusetzen und irgendwann entdeckte ich die traditionelle chinesische Medizin (TCM), die mich auf Anhieb faszinierte. Dies lag vor allem daran, weil in der TCM der Aspekt der Vorsorge und die Selbstverantwortung in Bezug auf den Erhalt der eigenen Gesundheit eine zentrale Rolle einnehmen. Und das bereits seit mehr als zweitausend Jahren. Ein Leitbild der TCM lautet in diesem Kontext: „Sich um seine Gesundheit zu kümmern, nachdem die Krankheit bereits ausgebrochen ist, gleicht einem Brunnen zu graben, wenn man bereits durstig ist“. Die westliche Medizin hat in der Behandlung von Krankheiten ein unfassbar hohes Niveau erreicht, für das wir wirklich dankbar sein können. Allerdings können wir in Bezug auf Prävention viel von anderen lernen.

BF: Können Sie unseren Lesern erklären, wie die TCM im wesentlichen funktioniert (bzw. welche Philosophie dahinter steckt)?

MM: Das zentrale Thema ist Harmonie. Gesundheit ist das Resultat von einer Harmonie im Inneren und einer Harmonie im Äußeren. Demgegenüber entsteht Krankheit, wenn diese Harmonie gestört ist. Dies ergibt in Summe ein ganzheitliches Menschenbild, das in der Diagnostik und in der Behandlung immer miteinbezogen wird. So werden in der TCM Emotionen, wie fortdauernde Ängstlichkeit, genauso als reale Krankheitsursache gesehen, wie Unzufriedenheit und Frust am Arbeitsplatz oder in der Beziehung. Das Ziel der TCM ist nicht die reine Behandlung der Beschwerden, sondern es geht darum, mehr Zufriedenheit und Glück in allen Lebensbereichen zu erlangen. Ganz im Sinne der WHO*, die Gesundheit als physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden definiert.

Abbild eines menschlichen Oberkörpers, im chinesischen Stil. Das Abbild ist mit Punkten und chinesischen Zeichen übersäht. Hier werden die Meridiane dargestellt.

BF: Was glauben Sie, ist der Grund, dass die TCM in Deutschland nicht die Position hat, die sie haben könnte?

MM: Die TCM ist eine individualisierte Medizin. Dabei steht die individuelle Person mit ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft im Mittelpunkt. Die Lebensumstände spielen eine Rolle, das Lebensalter, die aktuellen Lebensziele, das generelle Verhalten, der vorwiegende Gemütszustand, die Geschmacksvorlieben und noch vieles mehr. All diese Faktoren haben einen Einfluss auf die Diagnose und auf das Therapieverfahren. Dies kann dazu führen, das ähnliche Symptome bei unterschiedlichen Menschen komplett anders behandelt werden. Das macht die TCM schwer skalierbar und was nicht skalierbar ist, lässt sich schwer standardisieren. Wir (im Westen) bevorzugen eine standardisierte Medizin, sicher auch aus Kostengründen, wobei der Trend in der westlichen Medizin ebenfalls in Richtung Individualisierung geht. Ich denke also, die Zeichen für ein Umdenken stehen gut.

BF: Ich habe den Eindruck, dass sich viele Menschen nicht auf die TCM einlassen können, weil sie für sie nicht ‚greifbar‘ ist. Es gibt ja schließlich keine Tabletten, sondern es wird auf die Selbstheilungskräfte des Körpers gesetzt. Haben Sie auch diese Erfahrung gemacht?

MM: 2015 bekam die chinesische Forscherin Tu Youyou den Nobelpreis für die Entdeckung von Artemisinin, einem Therapeutikum, das erfolgreich gegen Malaria eingesetzt werden kann und weltweit Millionen von Menschen das Leben rettet. Die Basis ihrer Entdeckung war altes Kräuterwissen der TCM. Ein weiterer alter Wissensschatz der TCM erlebt gerade einen Höhenflug: Die Beschäftigung mit der Darmflora. Die Bedeutung dieser für unsere Gesundheit,  sowohl körperlich als auch geistig , war in der TCM bereits lange bekannt. Die Wissenschaft widmet sich diesem Thema aber erst seit gut zehn Jahren und konnte in dieser Zeit schon viele, in der TCM, klar dargestellte Zusammenhänge deutlich bestätigen. Auch werden etliche Akupunkturpunkte bereits klinisch eingesetzt, nach dem Motto: „Wir wissen nicht warum, aber es wirkt“. Die TCM ist in vielen Bereichen nicht greifbar, weil es noch zu wenig Motivation, Mittel und spezifische Forschung gibt, um sie wirklich greifbar zu machen und ja, damit tun sich viele Menschen schwer, weil wir dem Wissen einfach mehr vertrauen als dem Gefühl. Das ist der eine Aspekt. Der andere: Lebensstil- und Verhaltensänderungen sind ein wichtiger Teil der Herangehensweise der TCM, sprich Selbstverantwortung. Das ist nicht immer populär. Dann schon lieber eine Pille.

BF: Welche Krankheitsbilder können mit der TCM behandelt und vielleicht auch beseitigt werden?

MM: Bei uns sehe ich die größte Chance im Bereich der somatoformen Störungen. Das sind Beschwerden, die sich nicht oder nicht ausreichend auf organische Ursachen zurückführen lassen. Dazu zählen Erschöpfungszustände, Schmerzen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Magen-Darm-Beschwerden oder neurologische Störungen. Immerhin treten derartige Störungen bei fast
80 Prozent der Bevölkerung zumindest zeitweise auf und mittlerweile machen somatoforme Störungen beinahe 20 Prozent aller Arztbesuche aus. Die Ursachenfindung ist schwierig, weil auch psychologische und soziale Faktoren eine große Rolle spielen können. Das ist genau die Stärke der TCM: Diesen auf den Grund zu gehen. Dieser umfassende Behandlungszugang spiegelt sich auch im Behandlungserfolg wider.

BF: An welchem Punkt kommt die TCM an ihre Grenzen?

MM: In China gibt es unter Ärzten einen beliebten Spruch: Die westliche Medizin ist schnell und mechanisch, die TCM ist langsam und nachhaltig. Jedes Medizinsystem hat seine Stärken und seine Schwächen. Überall, wo rasche Korrekturmaßnahmen in Bezug auf Lebenserhalt und Lebensbewahrung notwendig sind, ist die westliche Medizin klar überlegen.

BF: Und kann die TCM mit der Schulmedizin kombiniert werden?

MM: Sogar sehr hervorragend. In China werden viele Kliniken zweigleisig betrieben. Yin und Yang ist die Lehre von der Einheit der Gegensätze. Die Betonung liegt auf dem „und“. Zum Wohle der Patienten wäre es schön, wenn in Zukunft eine Allianz aus mehreren medizinischen Systemen entstehen könnte. Es sollte nicht um die Frage gehen, wer besser ist oder wer recht hat. Es sollte um die Frage gehen, wie bestmöglich geholfen werden kann.

BF: Was war Ihre bedeutendste Erfahrung mit der TCM?

MM: Die klinische Erfahrung in China. Direkt vor Ort zu sehen, was mit Kräutern, Nadeln und den Händen möglich ist, grenzt oft an ein Wunder.

BF: Vielen Dank für das Interview und Ihre Zeit!

Wer ist Mike Mandl?

Aus einer Mediziner-Dynastie stammend, wuchs Mike Mandl mit den Themen Gesundheit, Krankheit und Heilung auf. Für ihn war es jedoch bereits in jungen Jahren klar, dass die höchste Heilkunst diejenige ist, die Leiden zu verhindern weiß. Ein frühes Interesse und Studium an alternativen Behandlungsmethoden brachte Mike Mandl 1993 an die International Academy for Hara Shiatsu, wo die große Liebe für und mit Shiatsu begann. Die intensive Auseinandersetzung mit der Materie, die umfangreiche klinische Praxis mit Shiatsu (in den Bereichen Geriatrie, Rehabilitation, Kinderpsychosomatik, Psychiatrie, Gynäkologie und Burn Out) sowie die enge persönliche Zusammenarbeit mit Tomas Nelissen machten Mike Mandl zu einem der jüngsten Shiatsu Lehrer mit Senior Qualified Teacher Status in Österreich, zu einem der jüngsten Referenten bei internationalen Shiatsu Kongressen und zu einem der profiliertesten Vertreter von Shiatsu in Europa.

Mike Mandl neben einen Mann kniend, eine Hand auf seinem Rücken, die andere auf dem Gesäßansatz

Buchtipp: Meridiane, Landkarten der Seele

Cover des Buches Meridiane von Mike Mandl.In „Meridiane. Landkarten der Seele“ erklärt Mike Mandl nachvollziehbar und schlüssig, wie sich die „Energieleitbahnen“ im Körper konkret erfahren und erleben lassen. Meridiane sind wie Landkarten der Seele, die ein tiefes Verständnis unserer Person und unserer Verhaltensweisen ermöglichen. Jeder der zwölf Hauptmeridiane steht dabei für ein fundamentales Lebensprinzip. Die Auseinandersetzung mit diesen Lebensprinzipen ist eine Reise, die zu mehr Gesundheit, Freiheit und Glück führen kann.
Wer sich noch nie mit der Traditionellen Chinesischen Medizin und den Meridianen auseinandergesetzt hat, wird sich auf spannendes Neuland begeben.

6. Auflage
Bacopa Verlag
Gebunden, 272 Seiten
ISBN 978-3-90307-175-9
€ 29,00 [D] | € 29,00 [A] | CHF 43,90 [CH]

*Weltgesundheitsorganisation

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