StartLeben mit Multiple SkleroseFreiheit auf drei Rädern erleben

Freiheit auf drei Rädern erleben

Die Selbsthilfegruppe radfahrlust© organisiert jährlich eine große Radtour für MS-Betroffene, Angehörige und Freund:innen

Radfahren war für ihn schon immer Lebenselixier und selbstverständliche Bewegungsform, egal ob auf dem Weg zur Arbeit oder auf den zahlreichen Wochenendtouren mit seinen Söhnen. „Und dann ging das plötzlich nicht mehr“, sagt der ehemalige Unternehmer Klaus Vock aus Darmstadt. „Meine Augen und mein Gleichgewichtssinn machten nicht mehr mit, beim Aufsteigen auf mein Zweirad bin ich manchmal einfach umgefallen … Ich hab’s immer wieder probiert und musste dann doch einsehen: Es geht nicht mehr, aus und vorbei.“

Mit Bewegung zurück ins Leben

Die Wendung kam für Klaus Vock, als er im Jahr 2007 die Spezialradmesse SPEZI in Germersheim besuchte und die dort ausgestellten Liegedreiräder ausprobierte. Auf drei Rädern spielten seine Gleichgewichtsstörungen keine Rolle, und er konnte den Blick entspannt nach vorne richten, wodurch auch keine Doppelbilder mehr auftraten. „Für mich waren die Entdeckung der Liegedreiräder und die damit wiedererlangte Mobilität eine Bewegung zurück ins Leben“, so Vock. Diese Erfahrung und das damit verbundene beglückende Gefühl wollte er sofort mit anderen teilen.

Selbsthilfegruppe radfahrlust©

„Am letzten Messetag las ich im Messekatalog einen Bericht über die BlindCycle Tour von Sebastian Burger. Da dachte ich sofort: ‚Eines Tages fahren wir MS-Betroffenen mit Spezialrädern durch die Republik!‘“ Die ersten drei Touren fanden als private Initiative statt, 2011 kam es dann zur offiziellen Gründung der Selbsthilfegruppe radfahrlust© unter dem Dach der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG). Seitdem hat die Gruppe zehn jeweils ca. einwöchige Radtouren auf Liegedreirädern in verschiedenen Regionen durchgeführt.

Die Radtour

Ein Gruppenfoto vor einer Mauer aus drei Torbögen: In der vorderen Reihe mehrere fröhlich, winkende Radfahrer mit ihren Liegefahrrädern. In der hinteren Reihe stehend, ebenfalls fröhlich winkend.

Einmal im Jahr sind MS-Betroffene und Menschen mit anderen neurologischen Handicaps eine Woche lang gemeinsam mit Nichtbetroffenen, Familie und Freund:innen unterwegs. Die Spezialräder werden der Gruppe dankenswerterweise für die Dauer der Tour direkt von den Herstellenden zur Verfügung gestellt. Sie werden von ehrenamtlichen Helfenden in Kriftel (HP Velotechnik), Weiterstadt (ICLETTA) sowie in Waltrop, NRW (HASE BIKES) und in Mittelfranken (AnthroTech) in Leihtransporter geladen und zum jeweiligen Austragungsort gefahren.

Ein Teil der Räder verfügt auch über Motorunterstützung (E-Bikes). Sie sind zudem mit Wadenhaltern, Aufstehhilfen u. a. Zubehör an die jeweiligen Erfordernisse der Fahrenden anpassbar, sodass selbst einseitig Gelähmte mitfahren können.

Übernachtet wird meist in einem zentralen Quartier, von dem aus Sternfahrten unternommen werden. Das können Mehrzweckhallen, Schulen oder Gemeindehäuser sein. Die Selbstverpflegung erfolgt durch eine eigene mitreisende ehrenamtliche Küchencrew, wobei sich alle Teilnehmenden an der Vor- und Nachbereitung der Mahlzeiten beteiligen – ein weiteres verbindendes Element, das den Gemeinschaftssinn und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärkt. Oft gibt es zudem tatkräftige Unterstützung von Menschen aus dem Ort – sei es in Form von Küchenhilfe, Kuchenspenden oder Obst- und Gemüsekörben, so wie es zum Beispiel im niederrheinischen Weeze-Wemb (2016) oder in Margetshöchheim bei Würzburg (2015) der Fall war. Die entgegengebrachte Herzlichkeit und Unterstützung waren einfach überwältigend.

Wichtig sind auch die guten Beziehungen zu den örtlichen Gruppen des ADFC. Ortskundige Guides des Fahrradclubs führen die „Radfahrlustigen“ entlang des Mains, durch Nationalparks oder Städte wie Speyer, Freiburg oder Mainz. Die Strecke wird von mehreren Helfenden aus den Reihen der Selbsthilfegruppe abgesichert. Das sind erfahrene Radelnde, die Einmündungen oder Kreuzungen autofrei halten. Bei Stadtfahrten hilft oftmals sogar die örtliche Polizei, den Konvoi aus bis zu 50 Liegedreirädern sicher durch den Verkehr zu bringen.

Das Foto zeigt eine Dame in einem Liegefahrrad vor der Abfahrt. Zwei Helfer unterstützen sie beim anschnallen der Füße in die Pedale.

Erfahrungen der Teilnehmenden

Die Tour vermittelt die wertvolle Erfahrung, gemeinsam mit anderen und aus eigener Kraft etwas erreichen, ja sogar eigene Grenzen überwinden zu können. Dieses Erfolgserlebnis schafft frisches Selbstvertrauen. Und es macht noch dazu großen Spaß, aus eigener Kraft heraus in der Natur unterwegs zu sein, den Fahrtwind zu spüren und die Natur zu genießen.

„Wenn ich radle, fühle ich mich überhaupt nicht behindert“, so eine langjährige Teilnehmerin. Eine andere Stimme sagt: „Ich fühle mich wie 20 Jahre jünger. […] So ein Bettenlager mit allem Drum und Dran war zwar eine große Herausforderung, aber meinerseits – finde ich – hat es super harmoniert. […] Die Bedenken, die ich bei der Anmeldung hatte, sind komplett weg. Ich fühle mich nach dieser Woche viel besser, weil ich erleben konnte, dass es anderen Betroffenen ganz ähnlich geht wie mir.“

Nächste Tour 2023

Coronabedingt musste die Tour leider von 2020 bis einschließlich 2022 pausieren. Für 2023 hofft die Gruppe, endlich wieder sicher vorausplanen und dann im Frühherbst mit voller Kraft in die Pedale treten zu können. Neue Gesichter sowie interessierte Helfende sind jederzeit herzlich willkommen!

Weitere Infos und Bilder unter https://www.radfahrlust.de/

Kontakt per E-Mail: mail@radfahrlust.de

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