Körpereigene Antikörper sind ein bedeutender Bestandteil unseres Immunsystems. Sie gehören zu der Gruppe der Eiweißmoleküle. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, fremde schädliche Zellen zu markieren, die in unseren Körper gelangt sind. Die Antikörper aktivieren gleichzeitig die Immunzellen, damit diese den (markierten) Krankheitserreger angreifen und zur Strecke bringen können.
Interview mit Prof. Dr. med. Gereon Nelles, Neurologe am NeuroMed Campus in Köln
Seit wann werden Antikörper in der Medizin genutzt?
Prof. Dr. med. Nelles: „Hauptanwendungsgebiete für die therapeutische Nutzung monoklonaler Antikörper sind die Hämatologie und Onkologie – darüber hinaus werden sie aber auch eingesetzt, um Autoimmunerkrankungen zu behandeln, wie zum Beispiel die Multiple Sklerose (MS), oder auch in der Migräneprophylaxe. In der Neurologie hat die Antikörpertherapie 2006 mit der Einführung des Wirkstoffs Natalizumab für die MS-Therapie begonnen. Hier ist aktuell wieder ein neuer Wirkstoff namens Ofatumumab für die frühe Behandlung der MS zugelassen worden. Als erster Antikörper für die Migränetherapie wurde 2018 Erenumab zugelassen. Es gibt aber auch für andere neurologische Erkrankungen Antikörpertherapien, das Spektrum ist mittlerweile groß.“
Was sind monoklonale Antikörper, und wie wirken sie?
Prof. Dr. med. Nelles: „Monoklonale Antikörper stellen eine Medikamentenklasse dar, die in der Lage ist, sehr spezifisch in entzündliche Vorgänge bei Autoimmunerkrankungen einzugreifen (Biologicals). Sie reagieren hochspezifisch mit bestimmten Bindungsstellen. Bei der MS handelt es sich meist um Rezeptoren auf Entzündungszellen wie den Lymphozyten. Wirkstoffe binden Rezeptoren, die wichtig sind, um die Zellen durch Blutgefäßwände ins Gehirn wandern zu lassen. Damit können viele Entzündungsreaktionen im Gehirn gedrosselt werden. Andererseits wird auch die Infektabwehr durch diese Immunzellen im Gehirn abgemildert.“
Wie und bei welchen Erkrankungen werden sie eingesetzt?
Prof. Dr. med. Nelles: „Monoklonale Antikörper werden unter anderem bei der Behandlung von MS, chronischer Migräne, Myasthenie (Muskelschwäche) oder Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD, seltene Autoimmunerkrankungen des zentralen Nervensystems) eingesetzt. Ebenso bei der Alzheimer-Demenz – hierfür gibt es bisher jedoch nur in den USA eine Zulassung.“
Welche Voraussetzungen müssen Patient:innen mitbringen, um eine Antikörpertherapie erhalten zu können?
Prof. Dr. med. Nelles: „In der Regel müssen Patient:innen – neben ihrer Erkrankung – keine besonderen Voraussetzungen mitbringen, damit sie mit Antikörpern therapiert werden können. Ein Sonderfall ist die Migräne. Migränepatient:innen müssen bisher alle etablierten Therapien durchlaufen haben, bevor sie eine Antikörpertherapie zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erhalten können. Das heißt, monoklonale Antikörper können erst verordnet werden, wenn zuvor konventionelle Medikamente nicht wirksam waren oder nicht vertragen werden sowie kontraindiziert sind. Das ist ein längerer Prozess und kann bei den Betroffenen mitunter auch zu Frustrationen führen.“
Wie können Antikörpertherapien MS-Patient:innen und Migräniker:innen helfen?
Prof. Dr. med. Nelles: „Die monoklonalen Antikörper werden für gezielte krankheitsmodifizierende Therapien eingesetzt. Bei der Behandlung der MS reduzieren sie zum Beispiel die B-Zellen über das Oberflächenprotein CD20 und verzögern dadurch die Krankheitsprogression der Betroffenen. Bei Migränepatient:innen wird die Antikörpertherapie zur Prophylaxe eingesetzt. Hier blockieren die Antikörper das migräneauslösende Protein CGRP – oder dessen Rezeptoren.“
Sind Antikörpertherapien gut verträglich und im Vergleich zu traditionellen Behandlungsoptionen auch wirksamer?
Prof. Dr. med. Nelles: „Die Antikörpertherapien sind insgesamt sehr gut verträglich. Die unerwünschten Nebenwirkungen hängen von dem einzelnen Antikörper sowie den jeweiligen Patient:innen ab. Der monoklonale Antikörper Erenumab für die Migräneprophylaxe zeigte in einer Studie im Vergleich zu traditionellen Prophylaktika eine bessere Verträglichkeit und Effektivität. Neben der Wirksamkeit ist insbesondere auch die Verträglichkeit ein wichtiger Faktor für den Therapieerfolg.“
Wie werden die Antikörper verabreicht, und wie oft müssen Patient:innen zur Behandlung?
Prof. Dr. med. Nelles: „Antikörpertherapien werden parenteral, also intravenös, oder subkutan verabreicht. Die Einnahmeintervalle hängen vom Antikörper ab. Im Falle der MS-Therapie können sich Patient:innen beispielsweise den Wirkstoff Ofatumumab nach vorheriger Anleitung durch medizinisches Fachpersonal selbst zu Hause mittels Autoinjektions-Pen verabreichen. Diese Form der Selbstapplikation via Fertig-Pen ist auch bei der Migräneprophylaxe mit Erenumab möglich.“
Was ist zukünftig seitens der Forschung und Behandlung mit Antikörpern zu erwarten?
Prof. Dr. med. Nelles: „Es wird wahrscheinlich in Zukunft noch mehr Antikörpertherapien für verschiedene Indikationen geben. Dabei wird es darauf ankommen, die richtigen Ziele zu identifizieren. Also jene Zellen oder Moleküle, die für eine Krankheitsentstehung besonders hohe Relevanz haben. Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat die Antikörperforschung weiter angekurbelt und verdeutlicht, wie viel Potenzial hier besteht.“