PEER

EIN OHR ZUM ZUHÖREN, EINE SCHULTER ZUM AUSWEINEN

Traumata überwinden und neue Wege finden mit Peers im Krankenhaus

Eine Amputation ist ein traumatisches Ereignis – für den Patienten, aber auch für Freunde und Familie. Da tut es gut, jemanden an der Seite zu haben, der diese lebensverändernde Situation aus eigener Erfahrung kennt: einen Peer im Krankenhaus. Mit einer neuen Seminarreihe bildet Anpfiff ins Leben e.V. die mutmachenden Begleiter aus.

„Das war’s jetzt.“ Die ersten Worte, die Björn Thielmann Sekunden nach dem Unfall durch den Kopf schossen. Er war auf dem Motorrad unterwegs, als direkt vor ihm ein Auto die Kurve schnitt: keine Chance auszuweichen. Sein Motorrad war völlig zerstört – sein Knie ebenfalls. „Das Bein hing nur noch so rum“, erzählt Thielmann. Er war überzeugt, dass er den Unfall nicht überleben wird. Doch er schaffte es, gegen alle Prognosen. „Als ich nach der Operation wieder aufgewacht bin, war ich natürlich erstmal erleichtert – aber mir war auch sofort klar, dass mein Bein weg ist.“

Er war 23 Jahre damals, arbeitete als Maurer. „Ich wurde brutal aus meinem Leben gerissen, von einem Moment auf den anderen war nichts mehr, wie es vorher war.“ Er hatte so viele Fragen: Wie geht es weiter? Kann ich jemals wieder gehen? Bekomme ich eine Prothese? Wie komme ich so schnell wie möglich zurück ins Berufsleben? Doch er bekam keine Antworten, weder von den Ärzten noch vom sozialmedizinischen Dienst. „Ich fühlte mich komplett alleingelassen“, sagt Thielmann rückblickend.

Das war vor 17 Jahren. Immer mal wieder hat ihn seitdem das Krankenhaus angerufen, wenn ein junger Mensch in der gleichen Situation war. Und immer ist Thielmann, der heute in Mannheim lebt, zurück in seine Heimat gefahren und hat die Menschen im Krankenhaus besucht, mit ihnen geredet, Fragen beantwortet oder einfach zugehört. „Ich habe einfach gemerkt, wie wichtig es ist, dass jemand da ist, der einen versteht, der das Gleiche durchgemacht hat.“

Das Programm PiK: Start in ein aktives Leben

Deshalb hat der 39-Jährige sich sofort für das Seminar „Peer im Krankenhaus“ der Bewegungsförderung von „Anpfiff ins Leben“ angemeldet. „Ich wollte die Möglichkeit nutzen, bei einem Krankenhausbesuch etwas strukturierter und professioneller vorzugehen – bisher habe ich das ja immer aus dem Bauch heraus gemacht.“ Und mit seiner neuen Ausbildung will er dann so vielen Menschen wie möglich das ersparen, was er selbst durchgemacht hat.

Seit 2009 gibt es das Programm „Peer im Krankenhaus“ (PiK) des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- oder Beinamputation (BMAB). Seit vier Jahren bietet der Verband auch eine eintägige Schulung mit Vorträgen an. „Das ist ein Super-Programm“, sagt Diana Schütz, die selbst seit der Kindheit oberschenkelamputiert ist und bei „Anpfiff ins Leben“, die Bewegungsförderung für Amputierte, ins Leben gerufen hat. Doch Schütz wollte interessierten Peers etwas mehr an die Hand geben als ein eintägiges Seminar.

„Einen Menschen in einer solchen Extremsituation zu begleiten, erfordert sehr viel Einfühlungsvermögen – deshalb wollte ich ein intensiveres Seminar anbieten, in dem es auch um Gesprächsführung und sicheres Auftreten geht.“

Gleichzeitig soll das Vorhaben PiK neuen Schwung verleihen – mit den Ressourcen und dem Netzwerk von „Anpfiff ins Leben“. Ziel ist, Menschen mit Amputation oder Dysmelie über passende Sportangebote in ein aktives Leben zu führen.

Für das Seminar hat Schütz Dorothee Schmid und Meike Ehrlich mit ins Boot geholt, die bis 2017 gemeinsam das Mentoren-Training der Kinderkrebsstiftung leiteten. „Wir wollen den Teilnehmern vor allem Selbstsicherheit mitgeben, damit sie mit einem guten Gefühl in die Gespräche gehen können. Sie lernen aktives Zuhören und Grundlagen der Gesprächsführung“, erklärt Diplompsychologin Schmid.

Viel Raum für Austausch, Auseinandersetzung und neue Perspektiven

An vier Wochenenden treffen sich die 14 Teilnehmer nun im „Anpfiff ins Leben“-Pavillon in Hoffenheim. „Die Resonanz war so groß, dass wir irgendwann beschlossen haben, die Teilnehmerzahl zu begrenzen“, erzählt Schütz. Sie kommen aus der Metropolregion, aber auch aus Hannover, Tübingen oder Bayern, sind zwischen 22 und 60 Jahre alt und alle selbst amputiert. Einige durch Unfälle, andere durch Krankheiten wie Krebs.

Beim ersten Termin Anfang Februar ging es vor allem um ein Kennenlernen der Teilnehmer – und um ihre persönlichen Geschichten. „Denn diese nehmen sie ja in jedes Peer-Gespräch mit und da dabei durchaus traumatische Erlebnisse dahinterstecken, ist es wichtig, sich mit diesen auch auseinanderzusetzen“, erläutert Schmid.

Auch für Marec Porebski war der Unfall, der ihm sein rechtes Bein kostete, ein traumatisches Erlebnis. Das war 2013, als er gerade dabei war, sich in der Dominikanischen Republik – seinem persönlichen Paradies – ein neues Leben aufzubauen. Als Fußgänger wird er von einem Motorradfahrer überfahren. Er schleudert durch die Luft, sein Bein wird dabei abgerissen.

Er lag lange im Koma, kämpfte um sein Leben. Als er endlich wieder stabil ist, organisiert seine Familie den Rückflug nach Deutschland. „Ich stand hier vor dem Nichts, alles was ich mir bis dahin aufgebaut hatte, war futsch“, erzählt Porebski. Eine Freundin nimmt ihn irgendwann mit auf ein Fußball-Benefiz-Spiel, wo er Diana Schütz trifft.

„Dieses Treffen hat mir so viel Motivation gegeben und mir gezeigt, was man auch mit einer Amputation alles erreichen und machen kann.“

Mit den Peers raus aus der Isolation

Bei Björn Thielmann ist es ebenfalls die Begegnung mit anderen Amputierten auf einer Skifreizeit, die ihm zeigt, was alles möglich ist und ihm Mut gibt.

„Auf einmal ist da jemand, der dir erzählt, dass es dieses Angebot für Amputierte gibt und man jenes Rezept braucht und der dir Tipps gibt, manchmal Kleinigkeiten, die den Alltag aber enorm erleichtern.“

Porebski nickt zustimmend. „Es muss ja nicht immer um Medizinisches oder Rechtliches gehen – sondern, dass jemand da ist, der dich abends mal auf ein Konzert mitnimmt oder dem du auch mal eine Frage zum Thema Sexualität stellen kannst – das fragst du ja nicht deinen Vater oder den Arzt.“

Und dieser jemand, dieser Peer, wollen Thielmann, Porebski und die anderen Seminarteilnehmer für möglichst viele Patienten sein. Dabei geht es ihnen nicht nur um die eigene Ausbildung. Alle 14 sind auch mit der Motivation angereist, das Programm PiK breiter aufzustellen, um noch mehr Menschen zu erreichen, sie zu sportlichen Aktivitäten zu motivieren und ihnen damit mehr Lebensqualität zu geben.

Eine eigene Homepage, Flyer, ein Austauschportal für Peers – die Vorschläge fliegen am Abschlusstag der Veranstaltung nur so durch den Raum. Die Stimmung ist gut, die Teilnehmer verstehen sich bestens. Und für alle ist klar: Das Seminar ist nur der Beginn, sie wollen gemeinsam etwas bewegen.

Ein Beitrag von Sarah Weik

Mehr über Anpfiff ins Leben und die Peer-Ausbildung auf:

www.anpfiff-ins-leben.de/amputierte.html

Fotos: Anpfiff ins Leben e. V.

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