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Therapiemöglichkeiten von Phantomschmerzen

Schnelle Hilfen und langfristige Therapien

Viele Menschen mit einer Amputation kennen einerseits die spontan auftretenden Schmerzen und andererseits die lang andauernden chronischen Schmerzen. Beide Formen sind störend und belastend.

Neueste Forschungen

Heute nimmt man an, dass Phantomschmerzen eine Folge von Veränderungen im Gehirn sind. So scheint der amputierte Körperteil der Patienten in dem Teil der Gehirnrinde, der das Fühlen und Tasten des Körpers speichert und darauf reagiert (die sogenannte „Tastrinde“), weiterhin zu bestehen. Allerdings verändert sich der Teil der „sensorischen Landkarte“, in der die Berührungs- und Schmerzreize entstehen, denn nach dem Eingriff fehlen die Nervenimpulse, die vor der Amputation nervliche Reize auslösten. Nun erhält die Tastrinde Informationen und Anregungen aus den Nachbarregionen. Je stärker diese Umstellung ist, desto heftiger wirken sich die Phantomschmerzen aus. Gab es vor der Amputation schon sehr heftige Schmerzattacken, haben sich diese oft schon in das zentrale Schmerzgedächtnis eingegraben.

Ein Bein und ein Prothesenbein stehen auf einer Treppe.

Stress kann Trigger sein

Auch Stress und depressive Stimmungen können sich auf Phantomschmerzen auswirken. Emotionale Schmerzreaktionen können ebenfalls eine Umorganisation verursachen und damit zum Verlust schmerzhemmender Mechanismen führen.

Therapie & Hilfe

Mittlerweile gibt es viele Therapien und Möglichkeiten, den Schmerzen wirksam zu begegnen, allerdings sind nicht alle medizinisch/wissenschaftlich nachweisbar. So individuell wie das Schmerzempfinden, so unterschiedlich sind auch die Erfolge der ausgewählten Therapien.  Es gilt, das Passende für die eigene Situation zu finden.

IM INTERVIEW: PD Dr. med. habil. Kai-Uwe Kern
Facharzt für Anästhesiologie und Allgemeinmedizin sowie Schmerztherapeut

BF: Herr Dr. Kern, in unserer letzten Ausgabe sind wir zusammen mit Ihnen auf das Thema Phantomschmerz im Allgemeinen eingegangen.  Nun wollen wir uns der Therapie dieses weit verbreiteten Problems widmen. Bei vielen amputierten Menschen existiert ja bereits ein sogenanntes Schmerzgedächtnis, entstanden durch jahrelange intensiv erlebte Schmerzen in der Gliedmaße, die später dann abgenommen wurde. Wird dies bei der Wahl einer geeigneten Therapie berücksichtigt? Und spielt der Amputationsgrund ebenfalls eine Rolle (z.B. Unfall)?

K: Bei jenen, die jahrelang vor der Amputation Schmerzen hatten, lassen sich diese tatsächlich manchmal in Form von Phantomschmerzen weiter abrufen. In diesem Sinne versucht man natürlich die Schmerzen vor, während und auch nach der Operation so gering wie möglich zu halten. Dies gelingt mit Regionalanästhesien, der Infiltration von Betäubungsmitteln, aber auch mit der präoperativen Gabe von Gabapentin (Nervenschmerzmittel) und der Gabe von Lidocain (Betäubungsmittel) und Ketamin (Anästhetikum) während der Operation. Das möglicherweise bestehende Schmerzgedächtnis sollte zumindest keinerlei zusätzliche Verstärkung erfahren. Moderne chirurgische Techniken bezüglich der „Verankerung“ durchtrennter Muskeln oder Nerven helfen außerdem, den Input aus dem Stumpf für den Körper besser verarbeitbar zu machen und so zur Schmerzreduktion trotz Vorbelastungen beizutragen. Liegen postoperativ tatsächlich dann Phantomschmerzen vor, werden alle Instrumente der Schmerztherapie eingesetzt, körperliche wie psychologische. Letztere machen natürlich besonderen Sinn, wenn die Amputation unvorbereitet erfolgte und das seelische Trauma somit deutlich größer ist.

BF: Was sind die erfolgreichsten Therapien derzeit?

K: Den Begriff „erfolgreich“ würde ich zunächst gerne in ein „relativ erfolgreich“ verwandeln. Insgesamt ist die Behandlung von Phantomschmerzen nämlich weiter unbefriedigend und es gibt weder eine Vielzahl wissenschaftlich gesicherter Studien noch klare Leitlinien zur Behandlung. Bei den medikamentösen Therapien sollten auf jeden Fall Versuche gemacht werden mit den Opiaten, Nervenschmerzmitteln (Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin, Oxcarbazepin) und bestimmten Antidepressiva (Duloxetin, Amitriptylin und Venlafaxin). Dies ist bisweilen auch in Kombination sinnvoll, ebenso wie ein Behandlungsversuch mit Cannabis. Bei den psychologischen Behandlungen liegen die Schwerpunkte auf einer Verbesserung der verloren gegangenen Sensorik, der Nutzung von Techniken zur psychologischen Ablenkung und Entspannung sowie der Verarbeitung des Traumas.

BF: Gibt es eine Behandlungsweise von Phantomschmerzen, zu der Sie grundsätzlich tendieren?

K: Ich selbst beginne meist mit der sehr wichtigen Verbesserung des Nachtschlafes durch wenige Amitriptylin-Tropfen zur Nacht, verbunden mit einer Kombination niedriger Opiate und Gabapentin. Besonders bedeutsam von Anfang an ist aber eine umfangreiche Aufklärung, damit die Patienten mit ihren eigenen Wahrnehmungen vertraut werden und ermuntert sind, eigene Möglichkeiten der Beeinflussung (körperlich wie seelisch) zu erkennen und zu nutzen.

Eine Frau mit Beinprothese meditiert im Schneidersitz

BF: Und nun die vielleicht interessanteste Frage: Kann man Phantomgefühle und Phantomschmerzen tatsächlich so erfolgreich behandeln, dass sie bei den Betroffenen nicht wieder auftreten?

K: Mit den oben genannten Methoden kann es durchaus gelingen, für wirkliche Ruhe zu sorgen und zumindest situativ vom Schmerz zu befreien. Dies allerdings nur so lange, wie sie eingesetzt werden. Die Zeit ist aber durchaus ein Freund der Patienten: Manchmal werden Phantomschmerzen nämlich nach und nach geringer. Was man mit lokalen Injektionen am Stumpf manchmal beeinflussen kann, sind die unangenehmen Phantomgefühle (eingefrorene Extremitäten, Fehlstellungen, verkrampfte Positionen), dies kann auch durch eine Spiegeltherapie gelingen. Jedoch ist auch hier meist eine anhaltende Behandlung nötig, Dauererfolge sind eher selten. Nicht vergessen darf man aber vor allem den Einfluss der Prothesen: Diese können sowohl Phantomgefühle als auch Phantomschmerzen manchmal nachhaltig verbessern, weil sie das erlebte Körperschema positiv beeinflussen.

BF: Sehen Sie neue und vielleicht erfolgreichere Therapiemöglichkeiten in der Zukunft (aufgrund neuer Technologien, KI etc.)?

K: Ja, hier können wir das gerade erwähnte Thema der Prothesen vielleicht als wichtigsten Faktor direkt fortsetzen: Die enormen Fortschritte der Prothesentechnik und die Integration sensorischer Informationen in die Nutzung der Prothese bergen große Chancen. Je physiologischer der wahrgenommene Kontakt von Extremitäten zur Umwelt (Laufen wie Greifen), umso besser die gewünschte Bewegung. So lassen sich auch die Schmerzen günstig beeinflussen. Eine weitere Zukunftschance ist die Virtual Reality. Da die Augen von recht großer Bedeutung für Bewegungsabläufe, Körperschema und offenbar auch Schmerzwahrnehmung sind, kann die Beeinflussung durch eine VR-Brille bereits heute relevant Schmerzen senken und wir haben viele Jahre der Optimierung sicherlich vor uns. Künstliche Intelligenz hilft uns zukünftig zusätzlich, das komplexe Geschehen des Phantomschmerzes sowohl in der Bildgebung des Gehirns als auch in seiner möglichen Beeinflussung durch externe Maßnahmen klarer zu verstehen. Und zuallerletzt wird künftig auch für die Behandlung von Phantomschmerz, wie für viele andere Schmerzen, die Beeinflussbarkeit von schmerzrelevanten Botenstoffen und Rezeptoren durch Antikörpertherapien vermutlich ein Gewinn werden.

BF: Vielen Dank für Ihre Zeit und das Interview!

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