Ein Beitrag von Flavia Fall
Bevor für unsere Familie ein neuer Lebensabschnitt im Takt des geregelten Schweizer Schulsystems beginnt, nehmen wir uns eine Auszeit. Wir leben ein paar Monate im Senegal. Die Heimat meines Mannes ist für mich als Rollstuhlfahrerin körperlich einschränkend, aber in anderer Hinsicht wohltuend befreiend.
Zu Hause bei meiner afrikanischen Familie in Dakar
Für einige Monate leben wir – ich, mein Mann, unsere gemeinsame vierjährige Tochter – bei meiner Schwiegerfamilie in Dakar. In einem Haus, das wir dank unserer Schweizer Einkommen in den letzten Jahren finanzieren konnten. Beim Bau haben wir ein Mindestmaß an Barrierefreiheit umgesetzt. Beim Eingang gibt es eine Rampe und im Badezimmer einen „englischen Stuhl“, wie hier die Toiletten zum Draufsitzen genannt werden. Üblich wäre für Senegal ein „türkisches Klo“, also eine Hocktoilette. Zudem hat es eine befahrbare Dusche. In unserer Mietwohnung in der Schweiz bin ich im Alltag weitgehend autonom. Dies dank verschiedener Hilfsmittel, wie z. B. eines an der Decke montierten Patientenhebers. Hier brauche ich aufgrund meiner Spinalen Muskelatrophie und der damit verbundenen schwachen Armmuskulatur für jeden Transfer Unterstützung. Gegessen wird normalerweise gemeinsam aus einer großen Platte, wobei alle im Kreis auf dem Boden sitzen. Auf einer Reise durch Marokko haben wir eine Lösung gefunden, die für die ganze Familie funktioniert: dank eines kleinen kniehohen Tisches können wir alle zusammen essen.
Anarchie auf dicht befahrenen Straßen
Aber nicht nur im Haus, sondern vor allem auch draußen stoße ich an viele Grenzen. In den Städten sind nur die Hauptverkehrsachsen geteert. Es gibt zwar Gehsteige, diese werden allerdings für Verkaufsstände, zur Lagerung von Baumaterial und als Parkplatz genutzt, sodass sie für mich mit dem Rollstuhl nicht passierbar sind. Insbesondere weil abgesenkte Auf- und Abfahrten fehlen. Auf der stark genutzten Straße neben Autos, Mofas, Lastwagen, Bussen und Pferdekarren zu fahren, ist ebenfalls keine Option: Das wäre schlicht lebensgefährlich. Auf den Straßen im Senegal herrscht absolute Anarchie! Die ruhigeren Nebenstraßen kann ich nicht nutzen, da sie uneben sind. Beim Errichten eines Hauses wird der Bauschutt stets vor dem Gebäude deponiert, der sich mit der Zeit mit Sand aus der Umgebung zu einer holprigen Piste verbindet.
Barrierefreiheit nicht vorhanden
Einen hindernisfreien öffentlichen Verkehr sucht man vergebens. Um von A nach B zu kommen, bin ich also auf ein Auto und erneut auf Hilfe von meinem Mann angewiesen, da ich weder selber fahren noch selber einsteigen kann. Es gibt nur wenige für mich mit dem Rollstuhl selbstständig befahrbare Wege. Diese sind oft sehr eng und stark frequentiert, wie etwa auf einem Markt. Dank meiner aus der Schweiz mitgebrachten Hilfsmittel, eines gut angepassten Rollstuhls inklusive des Zugfahrzeugs Swiss-Trac sowie der strandtauglichen Fat Wheels, bin ich aber maximal gut ausgestattet. Leider entspricht diese Ausrüstung nicht dem, was senegalesischen Rollstuhlfahrern zur Verfügung steht. Sie nutzen hauptsächlich importierte ausgediente Spitalrollstühle. Nur wenige besitzen ein angepasstes Motorrad, das durch die Montage von zwei Hinterrädern auch ohne Beinkraft gefahren werden kann. Woran es aber hier in Westafrika nie mangelt, sind helfende Hände.
Neugierige Kinder und unvoreingenommene Erwachsene
Als weiße Frau im Rollstuhl mit Zugfahrzeug und überdimensional dicken Rädern bin ich hier eine ungewohnte Erscheinung. Senegalesische Kinder kennen weder Scheu noch Zurückhaltung und stürmen, wo immer ich auftauche, herbei, um mich und mein „Fahrzeug“ zu beäugen. Im Gegensatz zur unverblümten Neugierde der Kinder interessieren sich die Erwachsenen scheinbar null für meine Behinderung. Fragen, warum ich im Rollstuhl sitze oder wie es möglich ist, dass ich trotzdem Mutter bin, werden mir hier nie gestellt, auch nicht durch die Blume oder hinter vorgehaltener Hand. Es ist ein ganz neues Lebensgefühl, mit einer solchen Selbstverständlichkeit als Person, ja als Frau gesehen zu werden. In der Schweiz begegne ich oft einem Dickicht aus Vorurteilen meiner Behinderung gegenüber, das es aufzubrechen gilt, bevor ich gesehen werde. Vieles im Senegal ist für mich anstrengend, aber die Offenheit der Menschen ist befreiend und herzerwärmend.